Freitag, 1. März 2024

Ihre Wiege stand in Mülheim

 Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die Internetseite des Mülheimer Geschichtsvereins recherchiert und aufgeschrieben.

Es ist die Geschichte der schwarzen Sängerin und Schauspielerin Marie Nejar, die zwischen 1952 und 1957 zu den Stars und Publikumslieblingen des Wirtschaftswunderdeutschlands gehörte. Von Eicken bekam diese Geschichte schon als Kind von seiner Mutter erzählt. Ihr Vater, sin Großvater kannte und schätzte einen schwarzen Nachbarn (Max Bissong), der aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun stammte und 1918 nach Deutschland kam, wo er als Zirkusartist seinen Lebensunterhalt verdiente und eine deutsche Frau heiratete.

Mit ihr lebte er seit 1927 am Hingberg. Der letzte Gastspielort seiner Artistenkarriere wurde seiner Frau und ihm zur zweiten Heimat. Damals waren schwarze Menschen in Mülheim, wo heute Menschen aus fast 150 Nationen zusammenleben, noch eine Seltenheit. Deshal war Bissong, der auf der Saarner Kirmes Kokosnüsse verkaufte und als Nachtwächter im Styrumer Röhrenwerk arbeitete stadtbekannt. Da er und seine Frau kinderlos waren, trug ihnen ein Mülheimer Waisenhaus 1930 die Pflegeelternschaft für ein schwarzes Mädchen, das nach seiner Geburt von der Mutter im Waisenhaus abgegeben worden war.

Die Bissongs nahmen diess Lebensaufgabe gerne an. Doch nach drei Jahren mussten sie ihr Pflegekind an dessen Großmutter abgeben, die ihre Enkelin in Hamburg großzog. Wenn man die erstaunlich jugendliche Stimme der heute 93-jährigen Marie Nejar in einem in einem Interview des Westdeutschen Rundfunks hört, sieht man eine Hamburger Dirn vor sich.

Obwohl man Marie aufgrund ihrer Hautfarbe die Aufnahme in den Bund Deutscher Mädel verweigerte, konnte sie, trotz mancher Diskrinierungserfahrung, vergleichsweise unbehelligt im nationalsozialistischen Deutschland aufwachsen. Dass hatte auch mit ihrer unerwarteten Filmkarriere bei der UFA zu tun. Dorthin hatte sie eine selbst farbige Freundin ihrer Großmutter als schwarze Statistin vermittelt. So kam es, dass Marie zwischen 19442 und 1944 mit Heinz Rühmann und Hans Albers in den UFA-Streifen "Quax der Bruchpilot" und "Baron Münchhausen" vor der Kamera stand.

Doch nach dem Kriegsende ging es für Marie erst mal alles andere als filmreif weiter. Die über alles geliebte, weil fürsorgliche und herzensgute Großmutter, mit der sie zusammenlebte, starb 1949. Marie wurde, obwohl noch keine 21, für volljährig erklärt, weil sie als Garderobiere uns als Zigarettenverkäuferin bereits ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen konnte.

Bei einer Mikrofonprobe in Timmendorfer Strand wurde ihre schöne Stimme 1950 vom Musiker Horst Harry Winter und vom Komponisten Michael Jary für die Film- und Schlagerbranche entdeckt. Sie bekam einen Schallplattenvertrag, nahm als Leila Negra insgesamt 30 Schlager und stand in  fünf Kinofilmen, unter anderem mit Peter Alexander vor der Kamera. Mit ihm sang sie auch 1954 ihren größten Hit: "Die süßesten Früchte fressen immer die großen Tiere." 

Weil das Medium Fernsehen, das erste Mülheimer Fernsehgerät wurde erst im Sommer 953 ausgeliefert, noch in den Kinderschuhen steckte, mussten Marie und ihre Kollegen aus der Showbranche durch das unterhaltungs- und nachholbedürftige Wirtschaftswunderdeutschland tingeln. Zwischen 1952 und 1955 trat sie auch dreimal bei Schlagershows in ihrer Geburtsstadt auf. Sowohl im Handelshof als auch im Löwenhofkino begeisterte sie das Mülheimer Publikum.

Doch schon 1957 stieg Leila Negra aus dem Showbusiness aus und begann als Marie Nejar 1957 ein Berufsleben als Krankenschwester in ihrer Heimatstadt Hamburg. Auch im Rückblick war es für sie die richtige und nie bereute Entscheidung für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben, weil sie mit 27 keine Lust mehr hatte, sich als Kinderstar vermarkten zu lassen, der mit einem Teddybären auftreten musste.


Der Autor & Presse

Sonntag, 25. Februar 2024

Bodenständige Geschichte

 Wir wussten es schon immer. Die Altstadt ist der historische Kern unserer Stadt. Hier residierten die 1093 erstmals urkundlich erwähnten Edelherren von Mülheim in ihrem Muhrenhof. Hier weihten sie ihre Hofkapelle dem heiligen Petrus. Im 13. Jahrhundert wurde aus der Kapelle die Petrikirche, an der nicht nur ein Wochenmarkt abgehalten, sondern die Mülheimer auch zur letzten Ruhe gebettet wurden. Wenn man sich Vorkriegsfotografien anschaut, sieht man, wie eng die Altstadt auf dem Kirchenhügel bebaut war, ehe der schwerste Luftangriff des Zweiten Weltkrieges in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni die Innen- und Altstadt mit 1600 Bomben in Schutt und Asche legte.

Heute sind wir dankbar für jedes Fachwerkhaus, dass in der Altstadt die 161 Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges überstanden hat, um uns vom Leben unserer Vorfahren zu erzählen. Diese Dankbarkeit drückt sich jetzt auch darin aus, dass der Kirchenhügel und seine angrenzenden Straßen in die Denkmalliste der Stadt und in die Bodendenkmalliste des Landschaftsverbandes Rheinland aufgenommen worden sind.

Diese Dankbarkeit gab es nicht immer. So wurde das 1530 errichtete Tersteegenhaus 1950 als Heimatmuseum wiederaufgebaut, aber das Geburtshaus des Arztes und Dichters Karl Arnold Kortum 1957 abgerissen und 1962 an der Kettwiger Straße 6 durch ein neues Haus für den CVJM ersetzt.

Eben dort, an der Kettwiger Straße sind seit 1969 auch Uwe und Irmtraud Baumann zuhause. "Die hört man kaum noch", beschreibt Uwe Baumann den Gewöhnungseffekt eines Alltags in Sicht und Hörweite der Glocken von Petri. Auch die seit der Reformation evangelische Petrikirche wurde durch den Luftkrieg bis auf die Grundmauern zerstört und dann, von 1949 bis 1958 mühsam wieder aufgebaut. Alte Fotos aus den 1950er Jahren zeigen eine Petrikirmes auf dem Kirchenhügel, deren Erlös in den Wiederaufbau der Petrikirche investiert wurde.

Dass die Altstadt jetzt offiziell zum Denkmal und zum Bodendenkmal erklärt worden ist, beeindruckt den Altstadtmitbewohner Uwe Baumann weniger, als die Tatsache, dass die Altstadt seit 2005 eine verkehrsberuhigte Zone ist und darüber hinaus alle Jahre wieder mit einem beliebten Adventsmarkt die Altstadt zum Treffpunkt macht. Apropos Treffpunkt. Auch darüber kann sich Baumann freuen, dass zuletzt wieder viele lange verwaiste Lokale der Altstadt jetzt mit neuer Gastronomie belebt worden sind.

Auch das, auf Initiative des Unternehmers Ulrich Turck, als Gemeindehaus neu errichteten Petrikirchenhaus zwischen Petrikirche und Tersteegenhaus, sieht Baumann ebenso als sinnvolle Wiederbelebung alter Traditionen wie die 2006 vom Verein der Altstadtfreunde neu errichtete Kortumbrunnen an der Petrikirche. Auch sein Vorgänger war 1943 ein Opfer der Bomben geworden.

Auch über die Wiedereröffnung des Heimatmuseums im Tersteegenhaus würde sich Altstadtbewohner Uwe Baumann freuen. Das älteste noch existierende Haus der Altstadt ist bereits seit 2011 wegen Baufälligkeit geschlossen und wird mit Unterstützung eines Freundeskreises derzeit restauriert. Ende offen.

Ende offen. Das gilt auch für die Frage, wann sich auch Radfahrer an das auf dem Kirchenhügel vorgeschriebene Schritttempo halten werden. Allerdings konnte die Stadt mit ihren historischen Recherchen jetzt auch die Frage beantworten, wie Altstadt zu ihrer Ringmauer gekommen ist. Sie war demnach eine Schutzmauer, die die alten Mölmschen errichtet hatten, nachdem der Mülheimer Kirchenhügel 1442 von Truppen des Kölner Erzbischofs angegriffen worden war.


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Samstag, 17. Februar 2024

NÄRRISCHE NACHLESE


Der Mülheimer Karneval ist in der abgelaufenen Session kleiner, aber nicht schlechter geworden. Die Zahl der aktiven Karnevalisten ist in den vergangenen 25 Jahren von 1600 auf 1000 zurückgegangen. Auch der organisierte Frohsinn wird vom demografischen Wandel getroffen. Die Zahl der Menschen mit einer karnevalsafinen Sozialisation nimmt ab. Die Zahl der Menschen, due mit dem Karneval kulturell nichts anfangen können, nimmt zu. Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aktiv in die Fünfte Jahreszeit einbringen, sind selten. 

Jeder Jeck ist anders

Die Saal- und Straßenveranstaltungen der abgelaufenen Session 2023/2024 haben aber auch gezeigt: Das Brauchtum Karneval ist auch in der Ruhrstadt, die nicht mit den rheinischen Karnevalshochburgen vergleichbar ist, weiterhin gesellschaftlich relevant. Es ist gewollt und wird auch sozial gebraucht, ob in der Jugendarbeit, beim Thema Inklusion und mit Blick auf den Kreis der Senioren. Auch in der Session, in der mit dem Aschermittwoch am 14, Februar 2024 erst mal als vorbei war, haben die Tollitäten und Karnevalsgesellschaften Menschen in den örtlichen Pflegeeinrichtungen den Spaß an der Freude ins Haus gebracht. Bei der inklusiven Karnevalsparty, zu der die Karnevalsgesellschaft Mülheimer Stadtwache und der Verein für Bewegungsförderung und Gesundheitssport am 26. Januar 2024 in den Festsaal der Stadthalle eingeladen hatten, waren 440 kostümierte und begeisterungsfähige Jecken mit von der närrischen Partie. Die Auftritte des Tanzkorps der KG Dürscheider Mehlsäcke, der inklusiven Tanzgruppe Flotte Socken und der inklusiven Närrischen Zuggemeinschaft, dem Prinzen Andy an der Spitze, gehörten zu den Höhepunkten des von Musik und Tanz bestimmten Bühnenprogramms. Im Rahmen der vom städtischen Kulturbetrieb geförderten Grenzenlos-Party, die bereits seit mehr als 25 Jahren über das Parkett der Stadthalle geht, wurde ihr sowohl an der Spitze des Vereins für Bewegungs- und Gesundheitssport als auch im Vorstand der Mülheimer Stadtwache aktiver Initiator Alfred Beyer mit dem Prinzenorden für seine Verdienste um die Inklusion innerhalb und außerhalb des Karnevals ausgezeichnet.

Einen Rückschlag in Sachen Inklusion musste, die durch den Selbecker Dorfkarneval seit 1992 mit den BewohnerInnen der Theodor-Fliedner-Stiftung hinnehmen. Aufgrund des Personalmangels der Theodor-Fliedner-Stiftung konnten diesmal keine BewohnerInnen aus dem Selbecker Fliednerdorf auf dem Rosenmontagswagen der KG Röhrengarde mitfahren. Nicht nur bei der Röhrengarde, die auch bei ihrem volkstümlichen Karnevalsfest in der Realschule Stadtmittel Gäste aus dem Fliednerdorf gerne willkommen heißt, hofft man, dass dieser schmerzliche Ausfall eine Ausnahme bleibt.

Jung, jeck und Spitze

Gemäß dem Sessionsmotto: "Karneval für jedermann. Jetzt sind mal die jungen dran!", zeigte sich der Mülheimer Karneval zwischen dem 11.11. 2023 und dem Aschermittwoch an seiner Spitze mit den Tollitäten, Fabienne Brugheat, Yannik Jungblut (Rote Funken) und Zoé-Lynn Espelmann und Schumann von seiner nachwuchsfreundlichsten Seite. Tatsächlich haben die jungen Tollitäten, inklusive der Paginnen Antonia Gehlhaus, Michelle Jungblut und Julia und die Hofmarschälle Michael Becker, Christina Schwab und Thomas Brugheat ihre Aufgabe als sympathische und eloquente Botschafter des in aktuell zwölf Karnevalsgesellschaften und im Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval organisierten Mülheimer Frohsinns bestens gemeistert. Neben ihren Shows kamen beim Publikum auch ihre Bekenntnisse zu einem im umfassenden Sinne inklusiven und integrativen Karneval beim Publikum gut an. Generell lässt sich mit Blick auf den Saalkarneval aktuell feststellen, dass der Publikumstrend eher zum Partymodus als zur wortgewitzten Büttenredenschlacht geht.

Ein Klassiker des Mülheimer Straßenkarnevals blieb und bleibt dagegen dankenswerterweise der diesmal von Elli Schott und Josephine Stachelhaus moderierte Möhnensturm des Rathauses, inklusive der Möhnenparty, die auch diesmal, trotz Regen, gut und gerne von den Jeckinnen auf dem Pastor-Luhr-Platz in Saarn gefeiert wurde.

66 Jahre Mölmsch jeck

Der vom Präsidenten Markus Uferkamp und von seinem Geschäftsführer Hans Klingels angeführte Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval konnte in der Session 2023/2024 sein 66-jähriges Bestehen am Karnevalsfreitag, 9. Februar 2024, mit einer Närrischen Nacht unter dem Motto "66 Jahre Mölmsch jeck" im Altenhof an der Kaiserstraße feiern. Diese neue Veranstaltung am Karnevalsfreitag soll dauerhaft den zwischen 1984 und 2020 in der Stadthalle gefeierten Prinzenball ersetzen.

Nicht nur der am 11. Dezember 1957 im Handelshof gegründete Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval, sondern auch die Karnevalsgesellschaften der Roten Funken und Blau Weiß freute sich in der vergangenen Session, dass ihnen der 1930 als Haus der Evangelischen Kirche errichtete Altenhof als geeigneter und allgemein geschätzter Veranstaltungsort wieder zur Verfügung stand. Auch das Autohaus Wolf in Saarn und das Dümptener Autohaus der Deichmanngruppe bewährte sich 2023/2024 zum Beispiel bei der Prinzenproklamation, bei den Herren- und Mädchensitzungen der Roten Funken und beim Gemeindekarneval "Firlefanz im Engelkranz" mit der von Rolf Völker angeführten MüKaGe. Und auch in der zurückliegenden Session haben die Autohäuser der Wolf- und Deichmanngruppe mit der Bereitstellung der Prinzenmobile die mölmschen Tollitäten in Fahrt gebracht.

Kirche und Karneval zeigten sich auch bei der ökumenischen Festmesse in St. Mariae Geburt an der Althofstraße und beim Karnevalsgottesdienst in der Imanuellkirche an der Kaiser-Wilhelm-Straße von ihrer fröhlichsten und ökumenischsten Seite. Deshalb waren auch nicht nur Oberbürgermeister Marc Buchholz, sondern auch Stadtdechant Michael Janßen und Superintendent Michael Manz beim 61. Rosenmontagszug des Hauptausschusses Groß-Mülheimer Karneval gern gesehene Mitfahrer. Der närrische Zug, der sich mit 23 Wagen, drei Musikkapellen und elf Fußgruppen am Rosenmontag, 12. Februar auf seiner 3,5 Kilometer langen Route in jeder Hinsicht unfallfrei und bei besten Wetterbedingungen durch die Innenstadt bewegte lockte insgesamt rund 26.000 Menschen ins Mülheimer Stadtzentrum.

Oberbürgermeister Marc Buchholz, der an den Tollen Tagen mit den Stadtschlüsseln seine Macht symbolisch an die Tollitäten abgeben musste, hatte  schon im Vorfeld der Session bei den Karnevalisten Pluspunkte gesammelt, nachdem er sich erfolgreich in ihren Sponsorensuche und in ihre Bestrebungen, nach einer Freigabe des Altenhofes für den Saalkarneval eingeschaltet hatte.

Ohne Moos nichts los

Trotz ihres unschätzbaren und bezahlbaren ehrenamtlichen Engagements sind Mülheims Karnevalisten auf Geldgeber aus der Stadtgesellschaft angewiesen, um zum Beispiel am Rosenmontag einen Zug durch die Gemeinde schicken und Kamelle, Schokoriegel, Bälle, Kekse und die besonders beliebten Plüschtiere unters närrische Volk zu bringen.

Deshalb hat das Brauchtum Mülheimer Karneval auch in der Session 2023/2024 nicht nur in seinem von Hans Klingels verantworteten Narrenkurier bei seinen Partnern Westenergie, RWW, Aldi-Süd, AZ Clean Group, MEG, Hagebaumarkt, RS-Reisemobile, Ruhrdeichgruppe, Sparkasse Mülheim an der Ruhr, Gerüstwerk, und bei der Wartseiner Brauerei gerne bedankt,  verbunden mit der Hoffnung auf eine auch weiterhin gute Zusammenarbeit im Sinne von Uss Mölm, Helau und Spaß an der Freude. 


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Sonntag, 11. Februar 2024

Gut gefahren?

 Der Klimawandel ist ein sozialer Megatrend, dem sich niemand entziehen kann. Der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs ist zweifellos eine Handlungsoption, um denklimaschädlichen CO2-Ausstoß signifikant zu senken. Folgt man den Angaben und Berechnungen des Umweltbundesamtes sowie den Statistikern des Statistischen Bundesamtes  und der EU-Statistikbehörde Eurostat, so zeigt sich aktuell folgende Ausgangslage.

Der Straßenverkehr ist für 22 Prozent der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Zum Vergleich: Die Energiewirtschaft stößt 37 Prozent, Industrie und Gewerbe 23 Prozent und die privaten Haushalte 17 Prozent der Treibhausgase aus. Im Weltmaßstab produziert Deutschland 2,5 Prozent der globalen CO2-Emissionen.  Abhängig davon, mit welchen Fahrzeugen man den Öffentlichen Nahverkehr organisiert, lassen sich im Verkehrssektor 40 bis 80 Prozent der Treibhausgasemissionen einsparen.

Vor diesem Hintergrund fragte sich jetzt die Kommunalpolitische Vereinigung der Mülheimer und Duisburger CDU: "Wie läuft es eigentlich mit Bus und Bahn?" Das am 7. August 2023 in Mülheim eingeführte Busnetzes, das unter anderem den Wegfall des Kahlenberg-Astes der Straßenbahnlinie 104 kompensieren soll, mangelnde Pünktlichkeit, zum Teil überfüllte Busse und Personalmangel bei der Ruhrbahn, aber auch ein jährlicher Zuschussbedarf, der sich auf der Mülheimer Seite auf 35 Millionen Euro beläuft, machen den öffentlichen Personennahverkehr zum Politikum, 

Dieses Politikum, verbunden mit den vergleichbaren, aber noch viel größeren Strukturproblemen der 1996 privatisierten Deutschen Bahn diskutierten Mülheimer und Duisburger Kommunalpolitiker der CDU mit ihrem Parteifreund, Frank Heidenreich, der für die CDU im Duisburger Stadtrat und in der Verbandsversammlung des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) sitzt, wo er die CDU-Fraktion anführt.

Heidenreich nannte in seinem Impulsreferat die Diskussion anregende Zahlen: Mülheim und Duisburg sind zwei der sieben kreisfreien Städte, die zusammen mit sieben Landkreisen, die den VRR als Gewährsträger zusammen mit den Geldgebern Bund und Land das Fundament des größten Verkehrverbundes in Europa bilden. In einer Region mit 7,8 Millionen Einwohnern transportiert der VRR täglich 30 Millionen Fahrgäste und erwirtschaftet damit Einnahmen von jährlich 1,1 Milliarden Euro. Hinzu kommen 710 Millionen Euro, die Bund und Länder jährlich für die Mobilitätsdienstleistungen des VRRs zahlen. Doch der VRR muss von diesen 710 Millionen Euro 380 Millionen Euro für die Nutzung der DB-Infrastruktur (Gleise und Bahnhöfe) zahlen.

Da die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nur ein Siebtel der Investiotionen für den Straßenbau in die Erhaltung und des Ausbau des noch aus Kaiser Zeiten stammenden Gleis- und Bahnhofsnetzes investiert hat, muss die im demografischen Wandel auch unter Personalmangel leidende DB zurzeit unter erschwerten Bedingungen einen riesigen Investitionsstau abarbeiten. Das gilt für den VRR und seine kommunalen Mitgliedsunternehmen, wie die Ruhrbahn im kleineren Vergleichsmaßstab auch.

Angesichts der von der schwarzgrünen Landesregierung angestrebten Verkehrswende, die den öffentlichen Personennahverkehr bis 2030 um 60 Prozent ausbauen will, ließ Frank Heidenreich durchblicken, dass er die Ausdünnung des Ruhrbahn-Fahrplans mit Verständnis für die finanzpolitische Zwangslage Mülheims, insgesamt kritisch sieht, weil sie in die entgegengesetzte Richtung weise. 

Das 175.000 Einwohner zählende Mülheim gilt mit insgesamt rund 90.000 Kraftfahrzeuge n zu den deutschen Städten mit der größten KFZ-Dichte. In der Ruhrstadt hat sich die Zahl der Kraftfahrzeuge seit Mitte der 1950er Jahre verneunfacht.

Der Mülheimer CDU-Stadtrat Dr. Siegfried Rauhut, der auch dem Aufsichtsrat der Ruhrbahn angehört, verteidigte den Mülheimer Sparkurs bei Bussen und Bahnen damit, "dass wir als Haushaltskonsolidierungskommune keinen Bock auf einen Sparkommissar aus Düsseldorf haben, der unseren kommunalpolitischen Spielraum auf Null reduzieren würde."

Der Vorsitzende der Kommunalpolitischen Vereinigung, Matthias Lincke, räumte ein, dass er: "das Neun-Euro-Ticket ausprobiert hat, dann aber aus Pünktlichkeits- und Bequemlichkeitsgründen wieder aufs Auto umgestiegen ist." Am Ende der Diskussion zeigte sich in folgenden Punkten ein Konsens: Erstens: U- Bahn- und Stadtbahntunnel sind ein überholtes Relikt aus den 1970er Jahren, als man noch das moderne und autogerechte Deutschland schaffen wollte, Und zweitens: Es wäre strategisch sinnvoller gewesen, die jeweils drei Milliarden Euro, die Bund und Land bisher in das Neun- und in das 49-Euro-Deutschland-Ticket investiert haben, in die Ertüchtigung der Bus- und Bahn-Infrastruktur zu investieren, ehe man an die Aufstellung eines kundenorientierten Tarifangebotes realisiere. "Die Menschen steigen erst dann dauerhaft vom Auto auf Bus und Bahn um, wenn diese sauber, sicher und pünktlich fahren,"


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Dienstag, 6. Februar 2024

Bodenständig und bürgernah

 "Das schönste Denkmal, dass sich ein Mensch bauen kann, steht im Herzen seiner Mitmenschen." Dem jetzt im Alter von 88 Jahren verstorbenen ehemaligen Bürgermeister und Landtagsabgeordneten Günter Weber ist diese Lebensleistung vergönnt gewesen. Wer ihn kannte, wird ihn als bürgernahen und bodenständigen Sozialdemokraten in Erinnerung behalten, der sich politisch vor allem für den Öffentlichen Personennahverkehr und einen ausgewogenen Mobilitätsmix, aber auch für seine Wahlheimat Dümpten stark gemacht hat. Die Stärken, Schwächen und unausgeschöpften Potenziale von Bus und Bahn kannte Weber nicht nur vom Hörensagen oder aus seinem Aktenstudium, sondern als täglicher Nutzer und Mitfahrer seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger, für die er ein offenes Ohr hatte.

Seine Wiege stand in der Mausegattsiedlung. Dort wurde er 1935 in eine Bergmannsfamilie hineingeboren. Als Kind erlebte und überlebte er den Zweiten Weltkrieg, unter anderem durch die Kinderlandverschickung nach Württemberg, 

Nach dem Krieg fand er seine berufliche Heimat bei Siemens in Dümpten. Politisch wurde der Bergmannssohn bei den Falken und in der SPD aktiv, für die er 1961 erstmals in den Rat der Stadt einzog. Mit seiner viel zu früh verstorbenen Frau Christel teilte er das sozial- und kommunalpolitische Engagement in der SPD und in der Arbeiterwohlfahrt, aber auch ab 1960 als ehrenamtlicher Leiter des Jugendzentrums an der Nordstraße.

Als Stadtverordneter, Bürgermeister und Landtagsabgeordneter hat er in mehr als drei Jahrzehnten für seine Heimatstadt wichtige Projekte, wie etwa den Stadtbahnbau, die erste Mülheimer Gesamtschule im Norden der Stadt, den Erhalt des Hor- und Hexbachtales, die Beschleunigung der Straßenbahnlinie 102, den Umgehungsstraßenbau der Mannesmannallee zur Entlastung der Mellinghofer Straße, den Ausbau der Weißen Flotte und den Volkshochschulbau an der Bergstraße politisch begleitet und/oder federführend auf den Weg gebracht.

Montag, 5. Februar 2024

Demokratie unter Druck

 Tausende Menschen sind in den vergangenen Wochen für unsere Demokratie auf die Straße gegangen. Auch in Mülheim nahmen sich 7000 Menschen dafür Zeit, den eisigen Temperaturen zum Trotz. Auch wenn diese 7000 Demonstrierenden angesichts der Teilnehmendenzahlen in anderen Großstädten vergleichsweise erscheinen mögen, ist diese Zahl für unsere Stadt mit derzeit 174.000 Einwohnern beachtlich, zumal die Kundgebung sehr kurzfristig initiiert wurde. Der DGB wäre froh, wenn er bei seiner Kundgebung am 1. Mai eine solche Zahl von Menschen mobilisieren könnte. Nur der Rosenmontagszug bringt mehr Menschen in unserer Stadt im Grenzbereich zwischen Ruhr und Rhein auf die Straße. Aber Spaß bei Seite. 

Die Frage bleibt: Was wird aus unserer Demokratie und wie bleibt sie funktionsfähig? Denn darum geht es im Kern. Warum werden antidemokratische Positionen politisch wieder salonfähig. Warum  gründen sich derzeit neue Parteien mit Aussicht auf Erfolg. Ist mit den bestehenden Parteien kein Staat mehr zu machen? Die Werteunion und das Bündnis Sarah Wagenknecht, aber auch die dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan und seiner Partei AKP nahestehende Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch, die sich als Migrantenlobby profilieren und positionieren will, sehen Lücken im demokratischen Parteienspektrum, die sie ausfüllen wollen, ob mit rechts- und nationalkonservativer oder mit sozialkonservativer Ausrichtung.

Vor allem bei den Wahlen des Europäischen Parlaments im Juni 2024 sind ihre Chancen vergleichsweise gut, weil hier nach dem reinen Verhältniswahlrecht, ohne Sperrklausel, gewählt wird.

Sind neue Parteien Teil der Lösung oder Teil des Problems? Aus der Kommunalpolitik aber auch aus dem historischen Beispiel des Reichstages der Weimarer Republik wissen wir: Das reine Verhältniswahlrecht erschwert die Parlamentarische Mehrheitsbildung und damit auch die politische Entscheidungsfindung.

Das ist der Kern unserer Demokratiekrise. Wo die Mehrheitsbildung immer schwieriger werden auch politische Entscheidungen immer schwieriger. Damit wird die Handlungsfähigkeit des demokratischen Staates und infolge dessen auch seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Und genau dies schwächt die soziale Akzeptanz des demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems, über das der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) zurecht festgestellt hat: "Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, außer aller anderen."

Der soziale Wandel unserer Gesellschaft, weg von einer nivellierten  Mittelstandsgesellschaft, weg von identitäts- und gemeinschaftsstiftenden sozialen Milieus und hin zu einer stark differenzierten und individualisierten Gesellschaft. Die Umfrage- und Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen uns dies überdeutlich.

Wollen wir als Staat und Gesellschaft in einer globalisierten Welt wieder mehr soziale und politische Stabilität, so müssen wir erkennen, verstehen und akzeptieren, dass unsere Demokratie nicht nur von der diskursiven Willensbildung, sondern auch von der zeitnahen Entscheidungsfindung leben.

Eine Option zur Erreichung dieses Ziels könnte die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes sein, wie es derzeit in Großbritannien, in den USA und in Frankreich praktiziert wird und wie es auch im Deutschland vor 1918 praktiziert wurde. Das wahlkreisbasierte Mehrheitswahlrecht erleichtert die parlamentarische Mehrheitsbildung und damit auch die Entscheidungsfindung. Außerdem zwingt es die mit der Stimmenmehrheit in ihrem Wahlkreisen gewählten Abgeordneten zur Bürgernähe. 

Doch das allein würde die Handlungs- und Funktionsfähigkeit unsere demokratischen und sozialen Bundesstaates nicht erhöhen, wenn wir die handlungshemmende Verschränkung von Bundestag und Bundesrat. Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) hat als Präsident des Parlamentarischen Rates (1948/49) dies bereits vorausgesehen. Deshalb plädierte er mit anderen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die sich jedoch am Ende nicht durchsetzen konnten, den Bundesrat nicht als Parlamentskammer der in der Regel koalitionsbasierten Landesregierungen, sondern vergleichbar dem US-Senat, zu einer von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählten Ländervertretung zu machen. Dies würde die parlamentarische Entscheidungsfindung konstruktiv erleichtern und beschleunigen, zumal dann, wenn man den deutschen Föderalismus noch einmal eine Aufgaben- und Strukturkritik unterziehen würde, mit dem Ziel zu definieren, für welche Aufgaben es Sinn macht, die alleinige politische Verantwortung den Ländern oder dem Bund zuzuweisen und in welchen Aufgabenfeldern eine gemeinsame Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern, die naturgemäß im die Gefahr eines Entscheidungen blockierenden Interessenkonfliktes unausweichlich ist.

Angesichts der aktuell 299 Bundestagswahlkreise zeigt sich, dass die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes problemlos eine Zahl der Mandate mit sich bringen würde, weil Listen,- Überhang- und Ausgleichsmandate im vergleichsweise einfachen und damit transparenten Mehrheitswahlrecht entfallen würde. Im Sinne der Bürgernähe könnte man die Wahlkreise sogar verkleinern und ihre Zahl damit erhöhen und damit trotzdem einen erheblich schlankeren und damit auch für die SteuerzahlerInnen preiswerteren Bundestag schaffen.


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Freitag, 26. Januar 2024

NEUE GEWALT GEGEN FRAUEN

Neue Gewalt gegen Frauen? In einer Gesellschaft, die die Gleichberechtigung der Geschlechter seit 75 Jahren in ihrer Verfassung stehen hat und mehrheitlich aus Frauen besteht, sollte kein Problem mit Gewalt gegen Frauen haben. Dieser Eindruck drängt sich vor allem angesichts zahlreicher Spitzenpolitikerinnen und beruflich erfolgreicher Frauen auf.

Doch der Eindruck täuscht. Die Journalistin Dr. Susanne Kaiser, Autorin der Bücher "Neue Gewalt gegen Frauen" und: "Politische Männlichkeit" macht bei einer Fachtagung zum Thema deutlich, "dass gerade erfolgreiche und sichtbare Frauen auch ein hohes Risiko haben, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden."
Sie nennt Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik. Danach ist die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen in den vergangenen beiden Jahren zehn Prozent angestiegen, während die Zahl der Frauen, die durch ihre Männer zu Tode gekommen sind von 120 auf 133 angestiegen sei.

Wie kann das sein? Die Ursache erkennt Kaiser in einem sozialen Zwiespalt zwischen gesellschaftlichem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Aus Gesprächen mit eiblichen Opfern männlicher Gewalt weiß sie, das Frauen in vermeintlich liberalen Akademikerehen von ihren Männern, trotz ihrer eigenen Berufstätigkeit, mit der klassischen Rollenerwartung konfrontiert werden, ihnen durch die Übernahme der Familien- und Erziehungsarbeit den Rücken freizuhalten. Diese Paradoxie führe in der Realität zu Frustration und im nächsten Schritt zu männlicher Gewalt.

Die Tatsache, dass sich zum Beispiel im Rechtspopulismus und im konservativen Islam Widerstand gegen die Emanziptationsfortschritte der vergangenen Jahrzehnte regt, sieht Kaiser "als ein Zeichen dafür, dass wir mit der Emanzipation auf dem richtigen Weg sind und weiter vorangehen müssen." Die wird Frauen nach Kaisers Einschätzung aber nur mit männlichen Verbündeten gelingen.
Eine emanzipierte Gesellschaft ist für Kaiser "auch im Interesse der Männer, die noch viel häufiger als Frauen von männlicher und struktureller Gewalt in einer neoliberalen kapitalistischen Gesellschaft betroffen sind, die sie krank macht."
Männern und Frauen rät Kaiser gleichermaßen, "sich nicht ins unbezahlte Ehrenamt abdrängen zu lassen, um dort gesellschaftlich wichtige Arbeit zu leisten, die politisch und strukturell unterstützt und deshalb auch bezahlt werden müsse."

Ihre Wiege stand in Mülheim

  Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die  Internets...