Sonntag, 27. Juni 2010

Was ist das Abitur heute noch wert und wohin geht das Gymnasium: Em Gespräch mit Ulrich Mehler (69) und Maik Böhmer (19)



Am 26. Juni trafen im Otto-Pankok-Gymnasium zwei Abiturienten-Generationen zusammen. Maik Böhmer (19) und seine 90 Jahrgangskollegen bekamen an diesem Tag ihr Zeugnis der Reife ausgehändigt. Bei Ulrich Mehler (69) und seinen Klassenkameraden, die sich an diesem Tag an ihrer alten Schule, wiedersahen, die zu ihrer Schulzeit, schlicht staatliches Gymnasium hieß, liegt dieser persönliche Meilenstein bereits 50 Jahre zurück. Für die die NRZ sprach ich mit Böhmer, der nach seinem Abitur Medizin studieren möchte und Mehler, der bis heute als Hochschullehrer an der Universität Köln alte Sprachen und Literatur vor ihrem großen Tag darüber, was ihnen ihr Abitur wert ist, was sie in ihrer Schule gelernt haben und wie sie die Entwicklung des Gymnasium sehen insgesamt beurteilen.

Herr Böhmer, wie fühlt sich das an, 2010 sein Abitur bestanden zu haben?
Ich habe das Gefühl: Alle Türen stehen offen. Man hat ein wichtiges Etappenziel erreicht und möchte jetzt weitermachen.

Herr Mehler, war das Abitur vor 50 Jahren mehr wert?
Das würde ich nicht sagen. Sicher hatte es damals einen höheren Stellenwert, weil weniger Menschen das Abitur machten. Auf der anderen Seite ist das Abitur auch heute die Eingangstür zum Studium und zu weiteren Möglichkeiten. Die Schwerpunkte haben sich verlagert. Vielleicht waren wir mehr allgemein gebildet, während sich das Wissen heute zugunsten einer Spezialisierung in bestimmten Bereichen vertieft hat.

Stimmen Sie dem zu, Herr Böhmer?
Ja, das ist schon so, wenn ich sehe, was meine Eltern und Großeltern aus ihrer Schulzeit mitbringen. Natürlich werden auch heute bestimmte Regeln vorgegeben. Man muss zum Beispiel Deutsch und Mathematik bis zum Abitur belegen. Ansonsten hat man aber ab der Klasse 11 die Möglichkeit mit der Kurswahl seinen persönlichen Interessen zu folgen.
Sehen Sie die differenzierte Oberstufe als Vorteil für Ihre Generation, Herr Böhmer?
Der Vorteil besteht darin, dass sich Schüler in der Oberstufe hervortun können, die sich in der Mittelstufe noch mit ungeliebten Fächern herumschlagen mussten, für die sie sich gar nicht interessiert haben. Andererseits ist das heutige Abitur, streng genommen, ja keine allgemeine Reifeprüfung, weil man diese ja nur in vier ausgewählten und nicht mehr in allen Fächern ablegen muss.

Gab es vor 50 Jahren bei Abiturienten so etwas, wie berufliche Zukunftsängste, Herr Mehler?
Zukunfstängste gab es damals nicht. Es war völlig klar, dass man machen konnte, was man wollte. Es gab auch keinen Numerus Clausus. Man konnte studieren, was man wollte. Alle Türen standen einem offen. Es gab keine Probleme. Alles war möglich.

Wie sind Sie durch Ihre Schule, die damals noch staatliches Gymnasium hieß, geprägt worden, Herr Mehler?
Ich habe diese Schule als Schüler gehasst. Auf der anderen Seite habe ich hier viel gelernt. Wir haben damals so etwas, wie eine Elite-Auswahl erlebt. Man musste eine Aufnahmeprüfung bestehen und Schulgeld bezahlen. Ich habe den ganzen Schulbetrieb mit seinen Klassenarbeiten, Prüfungs- und Versetzungsängsten gehasst, weil das ständig Druck ausübte. Auf der anderen Seite habe ich damals gelernt, dass es nicht ausreicht, etwas zu begreifen. Man muss es auch können. Bei uns wurde das, was man lernte, etwa durch regemäßiges Abfragen, bis zum Geht nicht mehr trainiert. Davon habe ich sehr profitiert. Obwohl ich mein Abitur in Latein nur mit einer knappen Vier bestand, habe ich später Latein studiert. Daran können Sie sehen, wie gut der Unterricht hier war.

Was haben Sie an Ihrer Schule gelernt, Herr Böhmer?
Auch ich habe gerade im Lateinunterricht das System Ordnung gelernt und verinnerlicht. Von dieser Basis bin ich bis heute beeindruckt und geprägt. Man lernt gerade im Lateinunterricht zu systematisieren und Profile einzuordnen. Ich habe dort das Lernen, die Fähigkeit zu differenzieren und auch Selbstdisziplin gelernt. Davon konnte ich auch in anderen Fächern profitieren.

Und was haben Sie als Mensch in Ihrer Schulzeit gelernt, Herr Böhmer?
Der Sport ist an dieser Schule immer eine große Hausnummer. ich selbst komme aus dem Fußball, habe aber hier auch Volley- und Basketball gespielt und dabei Teamgeist und Ehrgeiz entwickelt, Eigenschaften, die ich auch sehr gut auf die Schule übertragen konnte.
Spielte der Sport zu Ihrer Schulzeit auch so eine große Rolle, Herr Mehler?
Was wir an Sport gemacht haben, war eher im traditionellen Bereich. Das ging im Stil der alten preußischen Turnstunden ab. Aber im Hockey hatten wir die Brüder Nonn, die mit dem HTC Uhlenhorst die deutsche Meisterschaft gewonnen haben. Die waren natürlich unsere großen Vorbilder.
Haben Sie an Ihrer Schule Freunde fürs Leben gefunden, Herr Mehler?
Die Klassengemeinschaft hat sich eigentlich über die ganze Zeit gehalten. Das ist ein sehr positives Ergebnis. Wir haben in unseren gemeinsamen Schuljahren bis zum Abitur auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Wir waren ja damals als Klasse neun Jahre bis zum Abitur zusammen und kannten uns so sehr gut mit allen persönlichen Bezügen. Freundschaften sind dabei sicherlich entstanden, die sich später auch entwickelt haben, obwohl man nach dem Abitur naturgemäß auseinander gegangen ist.
Sind heutige Abiturienten noch Klassenkameraden oder eher Einzelkämpfer, Herr Böhmer?
Von Klassengemeinschaft ist in der Oberstufe ja nicht zu reden. Heute wird ja ab Klasse 11 der Jahrgang als Ganzes gefördert und in Kurse differenziert. Es gibt noch Raum für Freundschaften und Engagement außerhalb des Unterrichts. Aber dieser Raum ist doch sehr begrenzt. Es gibt eine starke Grüppchenbildung, die in gewisser Weise die Jahrgangsstufe auch sprengt. Erst als unsere Schulzeit jetzt zu Ende ging und es auf die Prüfungen zuging, hat sich ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt und das Bewusstsein herausgebildet, das wir ja eine Jahrgangstufe sind. Vorher hat man wenig davon gemerkt.

War das Gymnasium zu Ihrer Schulzeit, eine rein bildungsbürgerliche Angelegenheit, Herr Mehler?
Natürlich war das eine völlig bürgerliche Einrichtung. Und da wurde auch bürgerlich gesiebt. Kinder, die nicht aus Akademikerfamilien kamen, die hatten es an dieser Schule sehr schwer. Die flogen raus und kamen nicht über die Mittlere Reife hinaus. Ihnen wurde nahegelegt, die Schule zu verlassen oder sie bekamen ein Zeugnis, das für die Oberstufe nicht reichte.

Ist das Gymnasium heute demokratischer, Herr Mehler?
Es wird heute gesagt, die 68er Generation hat nichts bewirkt und der lange Marsch durch die Institutionen hat zur Prostitution in den Institutionen geführt. Das ist nicht ganz richtig. 1968 gab es in der Gesellschaft und auch im Bildungsbereich einen Umbruch, in dem man sich gefragt hat: Was ist richtig und was ist falsch? Und in den 70er Jahren kam dann die Bildungsreform hinzu, die auch die Türen für Kinder aus Nichtakademikerfamilien in Richtung Abitur öffnete. Aber heute ist da wieder ein restriktiverer Kurs zu spüren.

Herr Böhmer, ist das Gymnasium heute demokratischer geworden?
Es geht nicht darum, dass Akademikerfamilien Akademikerfamilien bleiben und unter sich bleiben wollen. Die Frage ist, was Akademikerfamilien ihren Kindern vermitteln. Das ist eine andere Bildungseinstellung. Da werden die Kinder von Grund auf gefördert und ein zum Teil auch übertriebener Drang zum Gymnasium entfaltet. Entscheidend für den Schulerfolg ist das Fördern des eigenständigen Denkens und Handelns. Sozial betrachtet fächert sich die Gruppe der Gymnasiasten immer mehr auf. Die Masse wird immer breiter. Es werden die Kinder genommen, die das fachliche Potenzial zu Gymnasium haben.
Wäre eine Gemeinschaftsschule die bessere Alternative zum Gymnasium, Herr Böhmer?
Das Gymnasium hat auf jeden Fall Zukunft. Von einem Systemwechsel zur Gemeinschaftsschule halte ich sehr wenig. Es ist eine andere Sache, ob man besser bis zur sechsten als nur bis zur vierten Klasse gemeinsam lernen sollte. Aber irgendwann muss man anfangen, die Leute einzuteilen. Das bedeutet nicht, dass man in eine Schublade gesteckt wird, aus der man nicht herauskommt. Wenn der Wille nicht nur vom Elternhaus, sondern auch vom Schüler auskommt, kann man das Abitur schaffen. Das gelgliederte Schulsystem fördert doch das individuelle Talent. Wie will man den einzelnen optimal fördern, wenn man einen leistungsstarken und einen leistungsschwächeren Schüler in eine Schule packt. Dass es dann gute Ergebnisse in der Breite der Masse gäbe ist keine Frage. Aber das der gute Schüler heraussticht und die Elite auch herauskommt, wird dann nicht gewährleistet.
Dieser Text erschien in leicht gekürzter Fassung am 26. Juni 2010 in der NRZ

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