Sonntag, 10. Juli 2011

Vorbeugen ist besser als verurteilen: Deshalb erleben Schüler an der Hauptschule Bruchstraße, wie es sich anfühlt, wenn man vor Gericht steht



Vom Schüler zum Staatsanwalt. Diese ungewöhnliche Karriere macht Nikolaj aus der sechsten Klasse der Hauptschule an der Bruchstraße an diesem Morgen. Und er merkt gleich, dass es gar nicht so leicht ist, die im besten Juristendeutsch verfasste Anklageschrift unfallfrei vorzutragen. Aller Anfang ist schwer. Doch dann klappt es immer besser.










„Das war nicht so leicht, viele neue Wörter vorzulesen, die ich gerade erst kennen gelernt hatte“, gibt Nikolaj später zu. Wörter, wie Strafzumessung, Beweismittel oder Angeschuldigter benutzt ein Sechstklässler ja auch nicht jeden Tag.Doch Nikolaj ist an diesem Schultag Teil einer Gerichtsverhandlung, die er mit seinen Klassenkameraden nachspielt. Und so wird aus seiner Mitschülerin Melissa im juristischen Rollenspiel der Schüler Steffen, der vor Gericht steht, weil er seinem Mitschüler Daniel bei einem Streit buchstäblich zwischen Tür und Angel den Arm gebrochen hat. Auch Davina, die trotz vorgeschriebenem Manuskript, frei spricht, spielt als Zeugin Hilal eine zentrale Rolle und gerät zwischenzeitlich sogar unter Verdacht, selbst an der Tat beteiligt gewesen zu sein.










Nur der Richter ist bei dieser Gerichtsverhandlung echt. Benno Braun war bis zu seiner Pensionierung Jugendrichter am Amtsgericht Gelsenkirchen. Jetzt spielt der 69-Jährige seinen alten Beruf regelmäßig und detailgetreu an Schulen nach. „Es macht Freude, den Schülern Neuland zu erschließen und meine Erkenntnisse, die ich über Jahrzehnte gesammelt habe, weiterzugeben. Ich möchte den Schülern zeigen, dass es sich nicht lohnt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Wenn ich nur einen Schüler so davon abhalten kann, straffällig zu werden, hat sich der Einsatz schon gelohnt“, erklärt Braun seine Motivation. Auch wenn der pensionierte Jurist, der über das Centrum für bürgerschaftliches Engagement zur Hauptschule an der Bruchstraße kam, zugibt, dass die Sechstklässler noch etwas jung sind, um den Lerneffekt der nachgespielten Gerichtsverhandlung vollends zu erfassen, kennt er aus seiner Berufspraxis viele Fälle, in denen Zwölf- und Dreizehnjährige gezielt Straftaten begangen haben, weil sie wussten, dass sie erst mit 14 Jahren strafmündig werden. Deshalb plädiert er auch dafür, die Altersgrenze der Strafmündigkeit auf 13 Jahre herunterzusetzen.










Den Schülern von der Bruchstraße wird an diesem Vormittag schnell klar, dass eine Gerichtsverhandlung kein Kinderspiel ist. Gleich zu Beginn lernen sie, dass man aus Respekt vor dem Gericht aufsteht, wenn Richter und Schöffen den Raum betreten. Auch spöttische Zwischenbemerkungen maßregelt der Richter sofort. Zwar hat Nikolaj als Staatsanwalt die textlastigste Rolle. Doch auch seine Mitschüler und Mitspieler merken während der eineinhalbstündigen Verhandlung, wie anstrengend die detaillierte Befragung durch einen Richter sein kann, bei der jede Kleinigkeit, auch aus dem Privatleben auf den Tisch kommt, um den Hintergrund des Tathergangs zu erhellen. Immer wieder müssen sie konzentriert zuhören oder präzise formulieren.










Für Melissa steht nach der Verhandlung, fest, „dass man immer gleich die Wahrheit sagen sollte, um sich Ärger zu ersparen.“ Und ihre Mitschülerin Davina hat beim Gerichtsspiel gelernt: „Was aus so einem Streit werden kann und das man sich besser nicht provozieren lässt.“ Deutschlehrerin Christna Thomas, die das juristische Rollenspiel angeregt hatte und Klassenlehrer Lothar Jankowski sind sich nach der Urteilsverkündung einig, dass ihre Schüler „dafür sensibilisiert worden sind, was aus Gewalt entstehen kann und das eine Körperverletzung keine Lappalie ist.“










Dieser Text erschien am 7. Juli 2011 in NRZ und WAZ

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