Samstag, 3. Januar 2015

Handicaps fangen im Kopf an: Eine Anfrage zum Welttag der Menschen mit Behinderung

Wenn sie sich zum heutigen Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung etwas wünschen könnten, fiele Alfred Beyer und Karl-Heinz Reinelt eine Menge ein. Der selbst nach einer Knochenkrebserkrankung beinamputierte Beyer engagiert sich seit über zwei Jahrzehnten als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Behindertenverbände und des Vereins für Bewegungsförderung und Gesundheitssport (VBGS). Reinelt setzt sich seit 15 Jahren im Vorstand der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft ein. Er ist nicht selbst betroffen, kam aber durch die Erkrankung seiner inzwischen verstorbenen Frau zur heute 120 Mitglieder zählenden DMSG.

Obwohl es in Mülheim seit über 20 Jahren eine Checkliste für barrierefreies Bauen gibt und Barrierefreiheit zumindest bei öffentlichen Bauten seit zehn Jahren gesetzlich verpflichtend ist, sehen beide immer noch Aufklärungsbedarf, um das Einmaleins des barrierefreien Bauens in die Köpfe von Architekten zu bekommen und teuere Nachrüstungen zu vermeiden.

Dazu gehören zum Beispiel Türen, die mindestens 90 Zentimeter breit sind und deshalb auch für Rollstuhlfahrer passierbar sind. Bedienungselemente im Aufzug sollten nicht höher als 85 Zentimeter installiert werden, um auch für Rollstuhlfahrer erreichbar zu sein. Und Rollstuhlrampen schaffen nur dann einen barrierefreien Zugang, wenn ihre Steigung nicht mehr als sechs Prozent beträgt und ihre Seiten mit einem zehn Zentimeter hochen radabweisenden Seitenschutz versehen sind, damit kein Rollstuhlfahrer seitlich von der Rampe fallen kann.

Wenn Beyer von Barrierefreiheit spricht, denkt er aber auch Induktionsschleifen, die Schwerhörigen in öffentlichen Räumen das Verstehen erleichtern, weil sie korrespondierend mit ihrem Hörgerät störende Nebengeräusche verschwinden lassen und ihnen so die Kommunikation erheblich erleichtern. Auch Sehbehinderten und Blinden wäre aus seiner Sicht sehr geholfen, wenn es flächendeckend kontrastreiche Treppenstufen, großgedruckte Briefe und taktile Leit- und Informationssysteme gäbe.

Reinelt ärgert sich vor allem über Rücksichtslosigkeiten, die nicht nur Rollstuhlfahrer in ihrem Alltag behindern. Da werden nicht nur Bürgersteige, sondern auch die ohnehin rar gesäten Behindertenparkplätze von Unbefugten zugeparkt oder der Vordermann lässt die Tür achtlos ins Schloss fallen, statt sie dem Hintermann am Rollator oder im Rollstuhl aufzuhalten, um ihm damit den Weg freizumachen.

Auch die Spendenbereitschaft, auf die ehrenamtliche Behinderten-Selbsthilfegruppen angewiesen sind, um ihre sozial integrierende Arbeit fortsetzen zu können, sieht Reinelt auf dem Rückzug. Dabei muss die DMSG schon 900 Euro investieren, wenn sie zum Beispiel für ihre Tagesausflüge einen Reisebus mit Hebebühne chartert. Denn nur mit einer solchen Hebebühne können auch die oft auf einen Rollstuhl angewiesenen MS-Kranken mitkommen, wenn es etwa zum Niederrhein oder nach Holland geht.

Reinelt und Beyer sind sich auch einig, dass sich viele Arbeitgeber immer noch schwer damit tun, Schwerbehinderte als Praktikanten, Lehrlinge oder Mitarbeiter einzustellen. „Viele Unternehmer wissen gar nicht, welche finanzielle Unterstützung sie zum Beispiel vom Landschaftsverband Rheinland bekommen können, wenn sie einen behindertengerechten Arbeitsplatz einrichten“, sagt Reinelt.

„Viele Arbeitgeber haben Angst, dass Schwerbehinderte nicht belastbar sind und deshalb zu oft krankheitsbedingt ausfallen“, glaubt Lars Lürig. Dabei ist der 39-jährige Luisenschullehrer das beste Beispiel dafür, dass man einen anspruchsvollen Beruf auch dann 100-prozentig ausfüllen kann, wenn der eigene Schwerbehindertenausweis aufgrund nur rudimentär ausgebildeter Gliedmaßen eine 100-prozentige Minderung der Erwerbsfähigkeit ausweist. Der Sozialwissenschaftler und Anglist arbeitet ganz normal als Fach- und Klassenlehrer und nimmt selbstverständlich auch an Klassenfahrten teil. „Ich sehe mich als einen Botschafter der Menschen mit Behinderung. Durch mich erleben Schüler, dass Inklusion möglich und Vielfalt in jeder Hinsicht für unsere Gesellschaft der Normalfall ist,“ sagt er.


Dieser Text erschien am 3. Dezember 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung

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