Donnerstag, 31. März 2016

Abzocke via Smartphone Verbraucherzentrale warnt am Weltverbrauchertag vor ungewollten und unwissentlich abgeschlossenen Online-Abonnements, die Kunden teuer zu stehen kommen

Als US-Präsident John F. Kennedy Anfang der 60er Jahre zum ersten Mal das politische Ziel des Verbraucherschutzes formulierte und die Vereinten Nationen seine Forderungen 1969 als Grundlage dafür nutzten, um den 15. März zum Weltverbrauchertag zu erklären, waren das Internet und Smartphones noch unbekannt.

Doch der technische Fortschritt, heute immer und überall online zu sein und damit ganz flexibel und individuell über Internetinformationen zu verfügen, hat für die Verbraucher auch seine Tücken.

Darauf wiesen gestern die Leiterin der örtlichen Verbraucherzentrale, Christiane Lersch und ihre Kollegin Ariane Jessen hin: „Wer über sein Smartphone oder mit einem USB-Stick mobiles Internet nutzt, sendet automatisch seine Mobilfunknummer an den jeweiligen Anbieter und Internetseitenbetreiber“, erklärt Lersch.

Das ist so lange kein Problem, so lange man nicht versehentlich eine Seite oder eine Internetanzeige anklickt, mit deren Hilfe sich eine für den Internetnutzer auf den ersten Blick nicht erkennbare Hintergrundseite öffnet, mit der der mobile Internetnutzer, ohne es zu merken und zu wollen, ein Abonnement abschließt.

„Diese Fälle haben sich in den letzten Wochen deutlich gehäuft. Allein heute haben wir neun Bürger beraten, die durch ein solches ungewolltes Online-Abo mit einer überhöhten Handyrechnung zu uns gekommen sind. Und im vergangenen Monat waren es insgesamt 20 in dieser Angelegenheit ratsuchende Bürger“, berichten Jessen und Lersch. Die Bandbreite der ungewollten Abos, die wöchentlich zwischen 2,99 Euro und 9,99 Euro kosten, reicht vom Horoskop über die Wettervorhersage bis zum Erotikdienst.

„Das Problem besteht darin, dass die Betroffenen mit den Anbietern der oft im Ausland ansässigen Anbieter der fraglichen Onlinedienste Kontakt aufnehmen müssen, um ihr ungewolltes und teures Abo zu stoppen“, beschreibt Lersch das Hauptproblem der geschädigten Smartphone-Nutzer.

Ihr Rat an die Verbraucher: Jede Handyrechnung genau überprüfen und mit dem Telekommunikationsanbieter eine teilweise oder totale Sperrung von Drittanbietern vereinbaren oder im Schadensfall diesem schriftlich mitzuteilen, dass man nur bereit sei, die unstrittigen Grundgebühren zu bezahlen. Lersch geht davon aus, dass die Marktwächter der Verbraucherzentralen schon bald auf die Bundestagsabgeordneten und die Bundesregierung zugehen werden, um die offensichtliche Gesetzeslücke im Verbraucherschutzrecht und im Fernabsatzgeschäftsrecht zu schließen. Geschädigten bieten Jessen und Lersch auch eine konkrete Begleitung und Beratung an, um die ungewollten Abos wieder los zu werden.


Dieser Text erschien am 16. März 2016 in NRZ und WAZ

Mittwoch, 30. März 2016

Zusammenlegung der Pflegeausbildungen bleibt umstritten: Dialogoffensive Pflege legte die Schwachstellen der von der Bundesregierung geplanten Ausbildungsreform offen

NRW-Gesundheitsministerin
Barbara Steffens
„Wie kann man nur auf die Idee kommen, die Kinder,- Kranken und Altenpflege in einen Ausbildungsgang zu pressen, obwohl man ein Kind doch ganz anders betreuen und abholen muss, als einen alten und vielleicht auch demenziell veränderten Menschen, mit dem ich in seine Biografie zurückreisen muss“, kommentiert Altenpflegeschüler Sascha Kirberg die Pläne der Bundesregierung, eine einheitliche Pflegeausbildung zu schaffen.
Franz Müntefering ist heute
ehrenamtlicher Vorsitzender
der Bundesatbeitsgemeinschaft
der Seniorenorganisationen.

Rund 300 Pflegepraktiker und Betroffene, die sich auf Einladung der Dialogoffensive Pflege im Altenhof versammelt haben, applaudieren. „Wenn drei Ausbildungsberufe in eine Ausbildung gepresst werden, wird das zu mehr Oberflächligkeit und zu weniger Tiefenwissen führen, das junge Menschen brauchen, um in der Altenpflege bestehen zu können“, befürchtet die Leiterin des Altenpflegeseminars der Arbeiterwohlfahrt, Gabriele Tenbrink. Nicht nur Margarete Illigens von der Alzheimer Selbsthilfegruppe bestätigt ihre Prognose: „Viele unserer Mitglieder befürchten, dass sie künftig nicht mehr die qualifizierten Altenpfleger haben werden, die sie brauchen, wenn diese Ausbildungsreform Wirklichkeit würde.“

Unterstützt werden die Leute aus der Praxis auch von einer ganz großen Koalition aus dem ehemaligen SPD-Chef Franz Müntefering, der heute ehrenamtlich an der Spitze der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen steht, der NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens von den Grünen und vom langjährigen CDU-Sozialpolitiker Paul Heidrich. Sie plädieren für ein Moratorium des Gesetzgebungsprozesses, um die Risiken einer kompakten Einheitspflegeausbildung abklären zu können.

Ihre Befürchtung: Die geplante Ausbildungsreform könnte in der Praxis dazu führen, dass nicht mehr, sondern weniger Menschen in den Pflegeberuf ihrer ersten Wahl gehen und dass die Ausbildung durch eine nötige Nachqualifizierung unverhältnismäßig verlängert werden könnte. „Hier wird ohne Not gehandelt“, sagt Gesundheitsministerin Steffens. Sie kann darauf hinweisen, dass NRW mit der Einführung einer Altenpflege-Ausbildungsumlage die stationären und ambulanten Pflegedienstleister finanziell entlastet und die Zahl der Altenpflegeschüler in den letzten fünf Jahren von 9200 auf 17?5000 gesteigert hat. Sollten die Reformpläne der Bundesregierung Gesetz werden, würden nur noch 77 Prozent der Ausbildungskosten per Umlage finanziert, Dann, so glaubt Steffens, würden sich viele der ambulanten Pflegedienste wieder aus der Ausbildung zurückziehen.

„Und wir brauchen künftig noch mehr qualifizierte Altenpfleger. Denn die Zahl der Über-80-Jährigen wird bis 2040 deutschlandweit von 4,2 auf 11 Millionen ansteigen,“ unterstreicht Müntefering. Er vergleicht die Reformpläne für eine kompakte Einheits-Pflegeausbildung mit „einem Motorwechsel in voller Fahrt.“

Obwohl die Reformpläne derzeit im Bundestag und im Bundesrat eine breite Mehrheit haben, sieht er im Gegensatz zu Steffens dennoch eine Chance, durch Überzeugungsarbeit ein Umdenken der angesichts noch ungeklärter Detailfragen oft selbst noch zweifelnden Befürworter zu erreichen.

Angesichts bisher nicht vorhandener Ausführungsbestimmungen nannte der Leiter der Bildungsakademie für Gesundheits- und Sozialberufe, Bodo Keißner-Hesse die Berliner Reformpläne „eine Blackbox, mit der ohne Not bewährte Ausbildungsstrukturen zerschlagen und später nicht wieder aufgebaut werden“ könnten.


Dieser Text erschien am 18. Februar 2016 in der NRZ und in der WAZ

Dienstag, 29. März 2016

Welttag der Menschen mit Trisomie 21: Drei Fragen an die Vorsitzende der Mülheimer Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung

Ulrike Stadelhoff
Alle reden von Inklusion und Integration. Doch wie steht es darum in der Lebenswirklichkeit von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Darüber sprach ich aus gegebenem Anlass mit Ulrike Stadelhoff. Die Mutter eines geistig behinderten Sohnes ist ehrenamtliche Vorsitzende der 1963 von Pastor Ewald Luhr gegründeten Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung.

Wie gleichberechtigt sind Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Leistungsgesellschaft?

‎Die  politische Entwicklung in den letzten Jahren hat die Menschen mit Behinderung deutlich mehr in den Focus des öffentlichen Interesses gerückt. Sie werden mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ernster genommen als jemals zuvor. Bis zur wirklichen Gleichberechtigung ist natürlich noch einiges zu tun, allerdings gilt das nicht nur für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung. 

Wie sehen Sie die Tatsache, dass immer mehr Menschen mit Down Syndrom aufgrund der vorgeburtlichen Diagnostik erst gar nicht mehr zur Welt kommen und damit die Zahl der Menschen mit geistiger Behinderung tendenziell immer weiter sinkt?

Ich kann nicht beurteilen, ob die Zahl der Menschen mit geistiger Behinderung tatsächlich sinkt oder ob sich nur die Formen der Behinderungen verändern. 

Ist das Leben mit einem geistig behinderten Kind/Menschen nur eine Last oder auch eine Bereicherung?


Es gibt gute und schlechte Zeiten, wie auch mit nicht behinderten Kindern. Sicher ist es nicht immer einfach, es eröffnen sich aber auch Perspektiven, die man durchaus als Bereicherung bezeichnen könnte. 

Dieser Text erschien am 21. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

Montag, 28. März 2016

So gesehen: Die Gunst der Stunde nutzen

Darf ich den Osterhasen denn schon essen?“ fragt ein kleiner Junge seine Mutter, als er sich auf ihr Geheiß hin einen süßen und gold ummantelten Meister Lampe aus dem Supermarkt-Regal nimmt. „Alles hat seine Zeit. Du musst noch einige Tage warten“, sagt die Frau Mama.

Da werden bei dem großen Jungen, der hinter ihnen steht, Erinnerungen an die eigenen Kindertage wach. War es nicht erst vorgestern, dass er seiner Mutter eine ähnliche Frage stellte und eine vergleichbare Antwort von ihr erhielt.


Erschreckend, wie schnell aus Tagen Jahre werden. Da gilt es nicht nur geduldig auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, sondern auch rechtzeitig die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich den manchmal bitteren Alltag etwas zu versüßen. Und das gilt nicht nur dann, wenn es darum geht, den Osterhasen zu vernaschen.


Dieser Text erschien am 23. März 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 27. März 2016

Weil der Glauben stark macht: Warum sich Jonas Seeger (14) und George Allotey (41) taufen lassen

Das Taufbecken von St. Mariae Geburt
Können Sie sich noch an Ihre Taufe erinnern? Wahrscheinlich nicht. Denn wie die meisten Christen werden Sie als Baby getauft worden sein. Jonas Seeger und George Allotey haben es da besser. Der 14-jährige Schüler und der 41-jährige Fachmann für Systemgastronomie stehen kurz vor ihrer Taufe. Ostern ist neben Pfingsten ein besonders beliebter Tauftermin.

Was motiviert den Schüler aus Speldorf und den Wirtschaftswissenschaftler aus Dümpten zu diesem Schritt, zumal in einer Zeit, in der viele Menschen ihre Kinder gar nicht mehr taufen lassen oder selbst als getaufte Christen ihre Kirche verlassen?

„Meine Eltern sind beide aus der Kirche ausgetreten und haben mich als Baby nicht taufen lassen. Das finde ich gut, weil ich mich so selbst für die Taufe entscheiden konnte“, erzählt Jonas Seeger. Obwohl seine Eltern der Kirche nicht mehr angehören und er nicht getauft war, haben seine Eltern und er doch zumindest einmal im Jahr zu Weihnachten die Lutherkirche an der Duisburger Straße besucht.

Das hat Jonas beeindruckt: „Ich kenne viele ältere Menschen, die regelmäßig in den Gottesdienst gehen, weil ihnen der Glaube Kraft gibt und irgendwann hatte ich das Gefühl, da muss was dran sein“, berichtet Seeger. Die Teilnahme am interreligiösen Unterricht der Gustav-Heinemann-Schule und die damit verbundenen Gespräche und Diskussionen haben sein Interesse an der christlichen Religion geweckt. Und als Pfarrerin Katrin Schirmer ihn Weihnachten 2015 fragte, ob er sich taufen und konfirmieren lassen wollte, sagte er Ja. „Religion kann einem Kraft und Motivation geben“, meint er. Und die Erfahrungen seines Konfirmandenunterrichtes haben ihn darin bestärkt, dass die evangelische Kirchengemeinde Speldorf eine starke Gemeinschaft ist, der er angehören möchte.

Anders als Jonas Seeger hat der in Kamerun geborene und seit 2001 in Deutschland lebende George Allotey die Erziehung eines christlichen Elternhauses und anschließend die Ausbildung an katholischen Schulen und Hochschulen erlebt. Doch weil seine Eltern unterschiedlichen protestantischen Kirchen angehörten, konnten sie sich nicht einigen, welcher Kirche ihr Sohn angehören sollte. Das sieht Allotey im Rückblick als einen Segen an. Denn so konnte er unterschiedliche Religionen und Konfessionen kennenlernen. Der Vater von drei Kindern, die alle katholisch getauft sind, hat im Laufe der Jahre viel gelesen und mit Menschen gesprochen, die ihn religiös inspiriert haben.

Wie Jonas Seeger hat auch George Allotey sich mit Christentum, Judentum und Islam auseinandergesetzt, ehe er sich selbst für die katholische Konfession des Christentums entschieden hat. „Die katholische Kirche ist die älteste christliche Gemeinschaft und hat die größte Kontinuität. Und trotz all ihrer Fehler tut sie doch sehr viel für die Menschen, ob im sozialen Bereich, in der Bildung oder in der Seelsorge“, erklärt Allotey seine Entscheidung. Wie Jonas Seeger ist George Allotey davon überzeugt, dass ein nicht dogmatisches, sondern tolerantes Christentum gerade in schwierigen Zeiten in einer offenen und multikulturellen Gesellschaft integrierend sowie Sinn und Werte stiftend wirken kann.

Besonders freut sich George Allotey darauf, dass seine elfjährige Tochter Silo Prudence und sein neunjähriger Sohn Solo Emmanuel seine österliche Taufe in Sankt Barbara als Messdiener begleiten werden. Auch ihnen will er ein gutes Vorbild sein.



Dieser Text erschien am 26. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

Samstag, 26. März 2016

DREI FRAGEN AN: Selbstbewusstsein für den Alltag trainieren

Sabine Dilbat ist Rektorin der
Realschule Stadtmitte
Am Wochenende luden der Polizeisportverein und die Realschule Stadtmitte zu einem Selbstbehauptungstraining ein. 14 Mädchen und zwölf Jungs zwischen 10 und 13 Jahren machten mit. Wie und warum? Ein Gespräch mit Rektorin Sabine Dilbat

Was haben die Jugendlichen trainiert?

Antwort: Unter der Anleitung von zwei erfahren Polizeihauptkommissaren haben die Jugendlichen ausprobiert, wie man sich in unangenehmen Situationen, in denen man sich bedrängt fühlt, wehren oder zumindest der Situation entziehen kann, indem man zum Beispiel tritt, zuschlägt oder auch laut und deutlich Passanten anspricht, um sich Hilfe zu holen.

Kann ein Selbstbehauptungstraining Übergriffe verhindern?
Antwort: So ein Selbstbehauptungstraining ist kein Allheilmittel. Aber es kann das Selbstbewusstsein stärken und verhindern, dass Jugendliche in eine Opferrolle geraten, statt mit Mut und Selbstbewusstsein Menschen entgegenzutreten und andere Menschen um Hilfe zu bitten.

Sind Mobbing und Übergriffe auch an Ihrer Schule ein Thema?

Das ist ein gesellschaftliches Thema. Ich selbst musste drei Schüler der Schule verweisen, weil sie andere Schüler massiv gemobbt hatten. Schüler müssen wissen, dass Lehrer immer für sie ansprechbar sind.


Dieser Text erschien am 15. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

Freitag, 25. März 2016

Ein Mann mit vielen Farbtönen: Für den Leiter des Wohnstiftes Dichterviertel, Harald Schaal geht am 1. April ein bewegtes und buntes Berufsleben zu Ende: Seine Lebensreise geht weiter

Harald Schaal kann sich
künftig öfter in den
Ohrensessel setzen.
„Ich habe 48 ½ Jahre gearbeitet“, sagt Harald Schaal. Am 1. April geht der Leiter des Wohnstiftes Dichterviertel, das er 2009 selbst aufgebaut und geleitet hat, in den verdienten Ruhestand. Was wird er vermissen? „Fragen Sie mich mal nach meinem Urlaub, wenn der Wecker nicht mehr um 6 Uhr klingelt“, gibt Schaal mit einem Schmunzeln zurück. Der 63-Jährige kann sich vorstellen, auch im Ruhestand zu arbeiten, ehrenamtlich, vielleicht beim Bürgerbus oder in der Flüchtlingsarbeit. Aber zunächst will er mit seiner Frau Ilka reisen.

Seine Lebensreise führte ihn von seiner saarländischen Heimat nach Schwaben und Westafrika über den Niederrhein ins Ruhrgebiet. Auch seine Berufsbiografie war bewegt. Sie begann mit einer Kaufmannslehre in einer Brauerei, ging weiter mit einer Krankenpflegeausbildung und einer Karriere als Stations- und Pflegedienstleiter in verschiedenen Kliniken.

Doch irgendwann nervte ihn der hierarchische Klinikalltag: „Ich wollte immer etwas selbst machen und ich wollte es gut machen“, formuliert er sein Lebensmotto. Das führte ihn in den 80er Jahren ins westafrikanische Benin, wo er als medizinischer Entwicklungshelfer Gesundheitsstationen, Apotheken und Operationssäle aufbaute und einrichtete. „Damals habe ich begriffen, dass wir hier in Deutschland  auf einem sehr hohen Niveau klagen, aber für unseren Wohlstand auch mit einem sehr hektischen Lebensstil bezahlen, der die Menschen hier weniger zufrieden macht, als die mit einem enormen Lebensmut ausgestatten Menschen in Westafrika.“

Ende der 80er Jahre kehrte Schaal nach Deutschland zurück, arbeitete zunächst wieder im medizinischen Klinikbetrieb, machte sich dann aber als Pflegeberater und Pflegetrainer selbstständig und richtete seine Aufmerksamkeit verstärkt auf die Altenpflege. Per Abendschule entsprechend weiter qualifiziert, übernahm er 1995 die Leitung eines Essener Altenheims, ehe er 2003 zum Wohnstift Raadt nach Mülheim wechselte. Sein Lebenselixier, „als Mensch etwas mit anderen zusammen selbstständig zu gestalten und damit ein positives Steinchen im Leben seiner Mitmenschen zu sein“, trieb ihn auch an, vor sieben Jahren nicht den Arbeitgeber Evangelisches Krankenhaus, aber doch seine Arbeitsstelle zu wechseln.

Obwohl die Altenpflege in Zeiten der Pflegeversicherung und der Zunahme von demenziell veränderten und gesundheitlich mehrfach eingeschränkten Altenheimbewohnern, den Alltag der Altenpflege nicht leichter gemacht hat, sagt Schaal seinen 90 Mitarbeitern im Wohnstift Dichterviertel immer wieder: „Wir haben den schönsten Beruf der Welt. Denn das, was wir hier an menschlicher Wärme und Dankbarkeit von den Bewohnern bekommen, ist etwas, das man an keiner Werkbank und in keinem Büro bekommen kann.“
101 Bewohner leben im Wohnstift Dichterviertel. Besonders stolz ist Schaal darauf, dass es unter seiner Leitung gelungen ist, das Wohnstift mit  Veranstaltungen, wie dem begehbaren Adventskalender, mit Konzerte und Lesungen oder mit der langen Nacht der Nähnadel, einem Frühlingsmarkt und einem Sommerfest nicht nur ins Dichterviertel hinein für alle Generationen zu öffnen.

Allerdings sieht Schaal angesichts des demografischen Wandels und der viel zu schwachen politischen Lobby von alten und pflegebedürftigen Menschen skeptisch in die Zukunft: „Ich bin froh, dass ich diese Entscheidungen nicht mehr in die Tat umsetzen muss“, sagt er etwa mit Blick auf die von der Bundesregierung geplante Zusammenlegung der Alten,- Kranken- und Kinderkrankenpflege. Schaal stellt fest: „Wenn drei Berufsausbildungen von je drei Jahren in eine gemeinsame Berufsausbildung von drei Jahren überführt werden, muss etwas von der Qualität und dem Fachwissen der jeweiligen Profession auf der Strecke bleiben.“

Dieser Text erschien am 23. März 2016 in NRZ und WAZ

Donnerstag, 24. März 2016

Spannungsreiches Spiel der Erinnerungen: Das Ensemble des Theaters an der Ruhr macht die Charaktere der „Glasmenagerie“ gegenwärtig

Albrecht Hirche als Tom, Simone Thoma als
seine Mutter Amanda und Gabriella Weber als
seine behinderte Schwester Laura
(Presse-Foto: Theater an der Ruhr)


Kleines Bühnenbild. Große Bühnenpräsenz. Damit zogen Simone Thoma, Gabriella Weber, Albrecht Hirche und Klaus Herzog ihre Premierenzuschauer im Theater an der Ruhr in die Handlung von Tennessee Williams Sozialdrama „Die Glasmenagerie“ hinein und ließen sie bis zur letzten Sekunde des von Schauspielerin und Regisseurin Simone Thoma inszenierten „Spiels der Erinnerungen“ nicht mehr los.

Zum Beispiel Albrecht Hirche als Tom Wingfield, der mit seiner Gitarre und seinem Hippie-Look den Typ des Aussteigers verkörpert und seinen Ausbruch aus der Familie und seiner unbefriedigenden Existenz als Schuhverkäufer und manischer Konogänger wortreich begründet und dennoch zwischen den Zeilen der Abrechnung so etwas wie Trauer und Wehmut erkennen lässt.

Zum Beispiel Simone Thoma, die als gleichermaßen verzweifelte wie ehrgeizige und dominante Mutter Amanda Wingfield die vom Vater und Ehemann verlassene Familie in eine bürgerliche Existenz zu hiefen versucht. Doch weil die starke und zugleich schwache Mutter ihre Wünsche auf ihre Kinder projiziert und sie damit überfordert, verliert sie nach ihrem Mann auch ihren Sohn.

Gabriella Weber hat als verkrüppelte und scheinbar in ihrer Traumwelt gefangene und behinderte Tochter und Schwester Laura die vielleicht komplexeste und eigenwilligste Rolle zu meistern. Sie hat diese schauspielerische Prüfung bestanden. Ihre wortlose Präsenz in den Szenen, in denen sich Mutter und Sohn über ihren Kopf hinweg Gedanken um ihre Zukunft machen, überzeugt ebenso, wie der verzweifelte und am Ende doch erfolglose Versuch, ihren Bruder zu einer dauerhaften Aussöhnung mit der beherrschenden Mutter zu überreden.

Und wie seinen Ensemblekollegen gelingt es auch Klaus Herzog mit seiner Darstellung den Charakter des halbseidenen Beinahe-Schwiegersohns Jim O’Connor gegenwärtig zu machen. O’Connor spielt mit Laura wie mit einer Puppe, ohne sie als einen besonderen Menschen jenseits der Realität zu begreifen.

Nach zwei spannungsreichen Theaterstunden verlässt der Zuschauer das Bühnenhaus am Raffelberg mit der Erkenntnis, dass auch er, wie die 1944 von Tennessee Williams geschaffenen Charaktere, ein Teil des Spiels ist, in dem sich täglich Wunsch und Wirklichkeit begegnen und sein Leben prägen.


Weitere Informationen gibt es unter www.theater-an-der-ruhr.de

Dieser Text erschien am 21. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

Mittwoch, 23. März 2016

Förderverein für die Mülheimer Städtepartnerschaften sieht sich auf einem guten Kurs

Der Kunsthistoriker Dr. Gerhard Ribbrock war
bis zu seiner Pensionierung stellvertretender
Leiter des städtischen Kunstmuseums
Alte Post. Seit einem Jahr leitet er als
ehrenamtlicher Vorsitzender den
Förderverein Mülheimer Städteparnerschaften
Seit einem Jahr agiert der 1995 gegründete Städtepartnerschaftsverein als reiner Bürgerverein mit neuem Vorstand. Auf der jüngsten Mitgliederversammlung zog er eine Zwischenbilanz. Drei Fragen an den Vorsitzenden Gerhard Ribbrock.

Frage: Ist der Verein geschrumpft?

Antwort: Nein. Wir konnten unsere Mitgliederzahl mit 353 stabil halten. Außerdem haben wir einen starken Kern von rund 60 aktiv engagierten Mitglieder. Das hat uns schon bei unseren bisherigen Aktionen geholfen. Mit Hilfe unserer Mitgliedsbeiträge konnten wir das Vereinsguthaben von 660 Euro auf 10.000 Euro steigern, so dass wir jetzt wieder in der Lage sind, Gäste aus den Partnerstädten zu bewirten und willkommen zu heißen.

Frage: Was steht 2016 auf Ihrem Programm?

Antwort: Unsere Bürgerfahrten nach Kfar Saba, Kouvola und Tours, an denen insgesamt 89 Bürger teilnehmen werden, sind ausgebucht. Wie im Vorjahr wollen wir auch 2016 auf dem Adventsmarkt in der Altstadt Spezialitäten aus den Partnerstädten anbieten. Außerdem planen wir für den 17. September, zusammen mit der Regler-Produktion, eine Kulturveranstaltung (Culture Club) in der Freilichtbühne. Und unsere Internetseite muss auch noch aufgefrischt werden.

Frage: Wann haben interessierte Bürger wieder die Gelegenheit mit dem Förderverein in die Partnerstädte zu reisen?

Antwort: Eventuell bieten wir 2017 wieder eine Fahrt nach Kfar Saba an. Vom 1. bis 11. September 2017 geht es nach Oppeln. Und vom 17. bis zum 26. Juni werden wir Darlington besuche. Weitere Auskünfte zu den Fahrten erteilt unsere Geschäftsführer Hans-Dieter Flohr unter 388 1818. Auch ein Kontakt per E-Mail ist möglich unter: vorstand@staedtepartner-mh.de


Dieser Text erschien am 10. März 2016 in NRZ und WAZ

Dienstag, 22. März 2016

So gesehen: Nichts verpasst

Eigentlich interessiere ich mich nicht für Werbeplakate. Doch an diesem Werbeplakat, auf das ich jetzt an einer Mülheimer Bushaltestelle stieß, blieb ich doch irgendwie hängen. „Das reine Vergnügen“, las ich da und sah junge Damen und Herrn in bester Laune und reizvoller Unterwäsche, die nur wenig verhüllte. Die spärlich bekleideten und herzhaft lachenden jungen Leute lieferten sich in einem Waschsalon ein neckisches Wettrennen im Einkaufswagen lieferten. Dessen Ziel, so wollte der Werbegrafiker meinen Augen weiß machen, war die Schachtel einer bestimmten Zigarettenmarke.

Schon wollte ich mich im Angesicht dieser puren Lebenslust fragen, ob ich als Nichtraucher und Nutzer einer häuslichen Waschmaschine im Leben etwas verpasst habe. Doch dann fiel mir ein: Die Werbung muss uns ja das reine Vergnügen vor Augen führen, um ihr Geld wert zu sein. Doch von der reinen Wahrheit ist bei ihren Auftraggebern sicher nicht immer die Rede. Zu Risiken und Nebenwirkungen, fragen Sie ihren Waschsalonbesitzer oder ihren kettenrauchenden Nachbarn. Die werden Ihnen, ebenso, wie ihr Arzt oder Apotheker etwas husten.

Dieser Text erschien am 14. März 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 21. März 2016

"Die Politik darf die Natur nicht ausblenden: Drei Fragen an den Nabu-Vorstand Elke Brandt

Elke Brandt ist Vize-Vorsitzende
des Nabu-Regionalverbandes
Sie hatten Mittwochabend Mitgliederversammlung. Wie sieht es mit der Mitgliederentwicklung beim Nabu aus?

Dank umfangreichen Aktivitäten hält sich unser Mitgliederbestand und ist sogar geringfügig auf rund 1600 angestiegen.

Was sind Ihre aktuellen Projekte?


Beim Nabu Ruhr liegt ein Schwerpunkt bei Arbeiten im praktischen Naturschutz. Wir pflegen in Mülheim-Menden zwei eigene Flächen und eine gepachtete Fläche, eine Obstwiese und eine Ackerfläche, die von einer Vogelschutzhecke umgeben ist und die wir in eine Wildwiese verwandeln. Hinzu kommen eine Heuwiese und eine Obstwiese auf der Saarner Kuppe. Deren Erlöse kommen dem Naturschutz zugute.

Was ist aus Ihrer Sicht in Mülheim politisch in Sachen Naturschutz angezeigt?

Antwort: Viele Politiker blenden die Natur aus und engagieren sich lieber für soziale Projekte. Der Landschaftsbeirat erarbeitet Stellungnahmen, die die Belange des Natur- und Umweltschutzes bei vorgesehenen Planungen berücksichtigen. Leider muss er häufig erfahren, dass vorgeschlagene Lösungen nicht umgesetzt werden. Die Politik sollte bedenken, dass der Naturschutz auch Kindern und Jugendlichen vermittelt werden muss. Denn nur was man selbst kennt, wird man auch schützen.


Dieser Text erschien am 18. März 2016 in der NRZ und in der WAZ 

Sonntag, 20. März 2016

Eine Dienstfahrt fürs Leben: Unterwegs mit der ambulanten Altenpflegerin Ricarda Jörißen

Ricarda Jörißen beim Anziehen der
Stützstrümpfe
Nichts ist selbstverständlich. Das merkt man, wenn man mit der Altenpflegerin Ricarda Jörißen unterwegs ist. Um 6 Uhr beginnt ihr Arbeitstag. Im Auftrag des ambulanten Pflegedienstes Pflege zu Hause fährt sie mit ihrem Dienstwagen kreuz und quer durch die Stadt. Sie hilft Menschen, die sich selber nicht mehr oder nur eingeschränkt helfen können, weil sie behindert, krank, alt oder alles zusammen sind.

Die meisten Patienten, die sie zwischen 6 und 13 Uhr aufsucht, sind zwischen 80 und 90. Doch an diesem Tag ist ihr erster Kunde ein geistig behinderter junger Mann, der mit regelmäßiger Betreuung, ansonsten aber selbstständig, in einer kleinen Wohnung an der Paul-Essers-Straße lebt. Bevor er mit der Straßenbahn zur Arbeit in eine beschützende Werkstatt der Fliednerstiftung fährt, verabreicht ihm Schwester Ricarda Medikamente. Schnell schaut sie sich noch eine kleine Verletzung an seinem Fuß an, die sie schon am Vortag mit einem Pflaster versorgt hat.

"Ich würde es ja gerne selbst machen"

Und dann geht es auch schon weiter zu einer älteren Dame. Ihr und einigen weiteren Senioren zieht die Mitarbeiterin des von Andrea und Martin Behmenburg betriebenen Pflegedienstes Kompressionsstrümpfe an. „Ich würde es ja gerne selber machen. Aber durch das Rheuma in meinen Fingern habe ich nicht mehr die Kraft dazu“, erzählt die aus Schlesien stammende Frau, ehe sie sich wieder ihrer Zeitungslektüre zuwendet und Schwester Ricarada schon auf dem Weg zur nächsten Patientin ist. Die Dame, die in einem alten Haus auf einem Reiterhof in Menden lebt, ist  noch gar nicht so alt und geistig fit, aber durch eine Augenkrankheit fast blind. Schwester Ricarda und ihre Kollegen kommen dreimal täglich vorbei, um ihr Augentropfen zu geben.

"Ziehen Sie sich bloß warm an"

„Ziehen Sie sich bloß warm an und trinken sie viel, damit Sie sich bei diesem Wetter durch das ständige Raus und Rein nicht erkälten“, rät ihr nicht nur eine hochbetagte Frau, die Ricarda Jörißen an der Tilsiter Straße besucht, um ihren Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Weil die Dame schwerhörig ist, hat Schwester Ricarda den Schlüssel für ihre Wohnungstür. Dennoch schellt sie an, bevor sie die Wohnung betritt. Jörißen hat viele Wohnungstürschlüssel an ihrem Schlüsselbund. „Viele Menschen leben allein und fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, dass wir ihren Wohnungsschlüssel haben und im Notfall nach dem rechten schauen können“, erzählt sie. Wer Hilfe braucht, muss Menschen vertrauen.
Die 25-jährige Altenpflegerin, die ursprünglich mal Tischlerin werden wollte, dann aber während eines Freiwilligen Sozialen Jahres beim Rettungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes merkte, „dass es mir Freude macht, mit und für Menschen zu arbeiten, die meine Hilfe brauchen“, strahlt mit ihrer ruhigen und freundlichen Art dieses Vertrauen aus.
Auch von dem etwas ärgerlichen alten Herrn, den sie heute außerplanmäßig von einer Kollegin übernommen hat, lässt sie sich nicht aus ihrer Ruhe bringen, als sie ihm den schmerzenden Rücken einreibt. „Ich kann den Mann verstehen. Er hatte uns früher erwartet und ärgert sich jetzt darüber, dass er so lange auf mich warten musste“, sagt die Altenpflegerin verständnisvoll.
Wer mit Ricarda Jörißen unterwegs ist, muss sich an einen flotten Schritt gewöhnen. Rund 10 bis 20 Patienten mit ganz unterschiedlichem Pflegebedarf wollen in einer Schicht versorgt und etwa 60 Kilometer gefahren werden. „Einen Parkplatz zu finden, ist manchmal das größte Problem“, weiß Schwester Ricarda.

"Haben Sie gut geschlafen?"

Nächste Haustür. Ein pensionierter Studienrat mit Wasser in den Beinen bekommt Kompressionsstrümpfe angezogen. „Haben Sie gut geschlafen?“ fragt Jörißen. „Ja, das habe ich. Gut schlafen ist eines der Dinge, die noch sehr gut kann“, antwortet der Mann mit einem Anflug von Galgenhumor.

Die nächste alte Dame, die gleiche Dienstleistung und ihre Lebensweisheit: „Egal, wie es kommt, man darf seinen Humor nie verlieren!“ Mit dieser moralischen Schubkraft aufgerüstet, kann der nächste Auftrag kommen. Ricarda Jörißen wäscht eine Mittachtzigerin und kleidet sie an. Dann ein geübter griff unter die Achseln. Und schon sitzt die alte Dame in ihrem Rollstuhl und darf sich auf das Frühstück freuen, dass ihr Sohn zubereitet hat. So kann der Tag anfangen und weitergehen. Weiter geht es für Schwester Ricarda mit dem Anlegen von Kompressionsstrümpfen, einer Medikamentengabe, einer Wundversorgung, dem Anlegen eines Verbandes und dem Austausch eines Urinbeutels. Menschen, die aufgrund einer Blasenkrebs-Erkrankung einen künstlichen Blasenausgang benötigen, sind für Schwester Ricarda ebenso Alltag, wie Gespräche über Krankheits- und Lebensgeschichten. Die Altenpflegerin muss manchmal lachen, wenn sie an die oft gegensätzlichen Ratschläge denkt, die ihre manche Senioren mit auf den Weg geben: „Heiraten Sie bloß nicht.“ oder: „Heiraten Sie bloß und bekommen Sie Kinder, damit Sie im Alter nicht allein sind!“ Natürlich erlebt Schwester Ricarda auch Situationen, in denen ihr das Lachen vergeht.

Bewusster leben

Es sind Hausbesuche, wie die bei einem 37-jährigen Mann, der nach einem Verkehrsunfall querschnittsgelähmt ist oder bei einem hochbetagten und pflegebedürftigen Ehepaar, das ihr unter Tränen von der Krebserkrankung ihrer 49-jährigen Tochter erzählt, die Jörißen eines zeigen: „Man muss seine Lebenszeit nutzen. Denn schon morgen kann alles ganz anders sein.“
Ganz anders wurde das Leben auch für den 81-jährigen ehemaligen Personalleiter eines Industrieunternehmens. Erst erlitt er einen Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmte und dann verlor er seine treu sorgende Ehefrau an den Krebs. „Wenn man früher alles selbst gemacht hat, muss man sich erst daran gewöhnen, dass man plötzlich auch für alltägliche Dinge Hilfe braucht“, sagt der Senior. Heute gehören die mit dem Besuch des Pflegedienstes verbundenen sozialen Kontakte und die noch mobile Freunde, die ihn hier oder dorthin mitnehmen, zu den Höhepunkten im Alltag des klassik-begeisterten Ex-Managers, der früher gerne im Kirchenchor seiner Heimatgemeinde St. Mariae Geburt gesungen hat.

Dieser Text erschien am 19, März 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Donnerstag, 17. März 2016

Reife Leistung: Die Seniorenzeitung Alt? Na und! gibt ihre 100. Ausgabe heraus

Die Redaktionsmitglieder der Seniorenzeitung
Alt? Na und! treffen sich immer wieder
dienstags um 15 Uhr in der
Heinrich-Thöne-Volkshochschule
Ab dem 22. Februar wurde die 100. Ausgabe der Seniorenzeitung "Alt? na und!" verteilt. 6500 Exemplare werden an 150 Abgabestellen gratis ausgelegt. In Arztpraxen und Apotheken kann man die Seniorenzeitung ebenso kostenfrei mitnehmen, wie in der Volkshochschule, in Stadtbüchereien, in Bürgerbegegnungsstätten, in Altentagesstätten und Altenheimen und an vielen öffentlich zugänglichen Orten mehr.
Erschien die erste Seniorenzeitung 1989 noch im klassischen Schwarz-Weiß, so ist sie heute farbig. Und das gilt nicht nur für den Druck und das Layout, sondern auch für die Inhalte.

Sehr vielseitig

Das zeigt schon ein Blick in die 100. Ausgabe: Über Radwandern für Senioren und einen ehrenamtlichen Reisebegleitdienst der Diakonie, die ZugVögel, wird da ebenso berichtet, wie über den Mülheimer Ruhrpastor und Sozialreformer Konrad Jakobs oder den Redaktionsbesuch des neuen Oberbürgermeisters und die Reform der Pflegeversicherung. Unter der Leitung von Gabriele Strauß-Blumberg bilden derzeit 11 Frauen und 6 Männer die Redaktion von Alt? na und? "Wir wünschen uns mehr Männer in der Redaktion, weil das einfach die Vielseitigkeit unserer Themen und Ausgaben fördert. Denn Männer und Frauen schauen nun mal unterschiedlich aufs Leben", erklärt Strauß-Blumberg.

Kreatives Training für die grauen Zellen

Wer sich mi Redaktionsmitgliedern, wie Jost Fischer, Ulrich Gürtler, Hans-Dieter Strunck, Rosemarie Mink, Marianne Schrödter oder Adele Kroner darüber unterhält, warum sich Frauen und Männer zwischen 60 und Mitte 80 zu Journalisten mausern, die viermal jährlich auf 16 DIN-A4-Seiten über Alltagsgeschichten, Stadtgeschichte oder das lokale und überregionale Zeitgeschehen und vor allem über interessante Menschen im fortgeschrittenen Alter schreiben, hört von ihnen zum Beispiel: "Hier kann man sich aufregen und wird zugleich angeregt." "Das trainiert die grauen Zellen und hält einen wach!" oder: "Hier kann man sich mit Themen beschäftigen und Menschen kennen lernen, die man sonst nie bearbeitet oder kennen gelernt hätte."
Ein Blick in alte und aktuelle Ausgaben oder eine Gespräch über geplante Themen zeigt: Auch schwierige Fragen, wie Armut, Sexualität oder Einsamkeit im Alter werden aufgegriffen."
"Ich glaube, dass Senioren sehr gut über unsere Stadt schreiben können, weil sie nicht nur das heutige, sondern auch das frühere Mülheim kennen und wissen, wie und warum sich die Stadt so entwickelt hat, wie sie heute ist", unterstreicht Ulrich Gürtler. "Wir möchten über das schreiben, was uns bewegt und was andere Menschen vielleicht auch interessieren und bewegen könnte", beschreiben Marianne Schrödter und Rosemarie Mink ihre journalistische Motivation. "Wir wissen eigentlich kaum, was unsere Leser denken und was sie interessiert, weil wir nur wenig Leserbriefe erhalten", bedauert Hans-Dieter Strunck. Allerdings erfahren seine Redaktionskolleginnen und er vor allem auf der Seniorenmesse im Forum durch Rückmeldungen der Besucher, dass ihre von der Stadt und von der Stiftung Bildung und Kultur finanzierte Zeitung viele begeisterte Leser hat. "Das ist wirklich gut. Macht weiter, so!" bekommen sie dann ganz pauschales Lob zu hören. Um eine differenziertere Rückmeldung auf die eigene Arbeit zu bekommen, hat die Redaktion, die sich dienstags von 15 bis 17 Uhr in der Volkshochschule an der Bergstraße trifft, jetzt einen Leserbeirat ins Leben gerufen, dem inzwischen 5 Stammleser angehören.

Selbstbewusste Senioren

Wenn Gabriele Strauß-Blumberg, die 1997 die Leitung der Redaktion als Nachfolgerin von Marianne Seeger und Monika Gockel übernahm, darüber nachdenkt, wie sich die Redaktionsarbeit gewandelt hat, dann kommt sie zu dem Ergebnis: "Senioren können heute eine ganze Menge auf die Beine stellen. Sie sind aber auch selbstbewusster geworden. Sie wollen sich nicht einfach an irgendeine Arbeit stellen oder zeitlich unter Druck setzen lassen. Denn das haben sie in ihrem Berufsleben lange genug mitgemacht." Sie und ihre Kollegen lassen keinen Zweifel daran, dass es "auch schon mal menschelt", wenn in einer Redaktionssitzung darüber diskutiert wird, welcher Text denn jetzt in die nächste Quartals-Ausgabe kommt und welche Geschichte erst mal im reichlich gefüllten Text-Pool der Redaktion landet. Dass die Redaktionsmannschaft von Alt! na und? offensichtlich immer mehr Texte und Fotos produziert, als in eine Ausgabe der kostenfrei ausliegenden Seniorenzeitung hinein passen, zeugt von Kreativität und der Aussicht auf noch viele spannende Ausgaben. Die Leser wird es sicher freuen. Und wer Alt! Na und? nicht nur lesen, sondern vielleicht auch mitgestalten möchte, sollte sich unter der Rufnummer 0208/455-4357 an Peter-Michael Schüttler wenden, der als Fachbereichsleiter bei der Volkshochschule die Seniorenzeitung seinerzeit mit ins Leben gerufen hat

Dieser Text erschien am 9. März 2016 in der Mülheimer Woche

Mittwoch, 16. März 2016

So gesehen: Zeitungsmensch und Zeitgenosse

Zeitung lesen ist manchmal aufregend. Aber es bildet auch und hält geistig rege. Der 1922 geborene Paul Zsigmond, der seit 1946 die NRZ liest, beweist es. Wer sich mit dem 93-Jährigen über das Zeitgeschehen unterhält, der kann sich nur wünschen, mit über 90 auch noch so hellwach zu sein und mit so viel Freude und Neugier aufs Leben seine Zeitung lesen zu können.

Auch wenn ihm seine erste Zeitungslektüre den Appetit auf Fisch raubte ist es doch schön, dass dem Mann so manche schwer verdauliche Zeitungsschlagzeile in 70 Jahren nicht aufs Gemüt geschlagen ist. 


Dieser Text erschien am 18. Februar 2016 in der NRZ

Dienstag, 15. März 2016

„Man kann mitreden“: Paul Zsigmond liest seit 70 Jahren jeden Morgen die NRZ – von der ersten bis zur letzten Zeile. Das bildet, sagt der 93-jährige Rentner aus Dümpten

Zeitzeuge und Zeitungsmensch
Paul Zsigmond
Paul Zsigmond ist ein Zeitungsmensch. „Ich bin schon als Kind immer früher aufgestanden, um die Zeitung lesen zu können, ehe ich zur Schule ging“, erinnert sich der heute 93-jährige NRZ-Leser der ersten Stunde. Dabei war seine erste Zeitungserfahrung eine negative. „Als Siebenjähriger las ich in der Zeitung einen Bericht über einen Mann, der an einer Fischgräte erstickt war. Danach wollte ich nie wieder Fisch essen“, erzählt Zsigmond.

Doch an diesem Schock hatte die NRZ keine Schuld. „Denn damals hatten meine Eltern noch den Mülheimer Generalanzeiger abonniert“, berichtet Zsigmond. Der in Dümpten lebende Witwer und Vater von fünf erwachsenen Kindern kann sich noch gut daran erinnern, dass nach Hitlers Regierungsantritt im Januar 1933 plötzlich in allen Zeitungen die Ideologie der NSDAP vertreten wurde. Seine Konsequenz aus Diktatur und Krieg war 1945 der Eintritt in die SPD. Obwohl der Mann aus der Arbeiterschaft, der viele Berufe vom Anstreicher und Kraftfahrer über den Operettensänger bis hin zum Möbelverkäufer und Gastwirt ausgeübt hat, nie ein politisches Amt bekleidet hat, sind ihm Demokratie und soziale Gerechtigkeit bis heute ein Herzensanliegen.

Es waren Sozialdemokraten, wie der spätere Oberbürgermeister Heinrich Thöne, der spätere Landtagsabgeordnete Erich Kröhan oder der spätere Bundestagsabgeordnete Otto Striebeck, die Zsigmond im persönlichen Gespräch davon überzeugten, täglich die Neue Ruhr Zeitung zu lesen. Denn die Britische Militärregierung hatte die von Dietrich Oppenberg herausgegebene NRZ 1946 als SPD-nahe Tageszeitung und damit als publizistisches und politisches Gegengewicht zur CDU-nahen Rheinischen Post

Durch die persönliche Bekanntschaft mit dem ersten NRZ-Redaktionsleiter in Mülheim, Otto Striebeck, hatte Zsigmond den Eindruck gewonnen, „dass man diesem Mann vertrauen und jedes Wort glauben konnte, das er schrieb.“ Gerne erinnert sich Zsigmond auch an die Gespräche mit dem „netten“ NRZ-Sportreporter Willi Rüter, mit dem er sich bei Mölters gelegentlich auf ein Glas Wein traf, um zum Beispiel über den VFB Speldorf oder den Boxclub Ringfrei Mülheim zu fachsimpeln. Später las er besonders gerne die pointierten Kommentare des langjährigen NRZ-Chefredakteurs Jens Feddersen.

„Ich lese die Zeitung jeden Tag von der ersten bis zur letzten Seite“, betont Zsigmond. Früher tat er dies am frühen Morgen vor der Arbeit. Als Ruheständler gönnt er sich erst mal ein Frühstück und anschließend eine ausführliche und gemütliche Zeitungslektüre, die sich in der Regel über den ganzen Vormittag erstreckt. Eine Lupe und ein Lampe helfen dem Über-90-Jährigen die Sehschwäche des Alters zu kompensieren. Eine etwas größere Grundschrift seiner NRZ fände er gut. Ansonsten hat er an seiner Tageszeitung eigentlich nichts auszusetzen. Politik, Lokales und die Todesanzeigen interessieren ihn besonders.

In der Rückschau auf 70 NRZ-Leser-Jahre hat „er jedes Wort gefressen“, als die NRZ 1962 über die Spiegel-Affäre und 1963 über die Rettung eingeschlossener Bergleute in Lengede berichtete. „Beim Wunder von Lengede haben wir alle mitgefiebert“, erinnert sich Zsigmond.

Lokal bewegte ihn Anfang der 70er Jahre der am Ende erfolgreiche Kampf gegen den geplanten Bau der Bundesautobahn A31, die entlang der Mülheim-Essener Stadtgrenze durch Dümpten, Heißen und das obere Rumbachtal führen sollte. Der Bürgerprotest stoppte das Bauprojekt – anders, als dreieinhalb Jahrzehnte später bei Ruhrbania. Mit der Fällung der alten Ostruhranlagen und den realexistierenden Ruhrbania-Bauten, samt Hafenbecken kann sich Zsigmond bis heute nicht recht anfreunden.

Aber auch, wenn ihn die Zeitungslektüre manchmal aufregen mag, möchte er sie auf keinen Fall missen. „Zeitunglesen bildet und sorgt dafür, dass man mitreden kann. Außerdem kann ich das, was ich in der Zeitung gelesen habe, besser behalten, als das, was ich im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört habe“, erklärt er seine Leserliebe zur NRZ, der er auch heute bestätigt, „nah am Volk zu sein und sich zu bemühen, ihrer Aufgabe als Zeitung gerecht zu werden.“

Dieser Text erschien am 18. Februar 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 14. März 2016

So gesehen: Fußgänger trifft Raser

Auch am Sonntag sollte man den Begriff Fußgängerzone auf der Schloßstraße nicht allzu ernst nehmen. Denn auch am Tag des Herrn sind die Raser vor dem Herrn unter uns. Gestern begegneten sich dort zwischen Schloßstraße und Kohlenkamp zwei Fußgängerpärchen und trauten ihren Augen nicht, als sie von einem rasenden Radfahrer mit Helm, der offensichtlich für die Tour de France trainierte als Slalomstangen benutzt wurden. Leider waren keine Streifen des Ordnungsamtes oder der Polizei zu sehen, die den rasenden Rowdy hätten stoppen und zur Kasse bitten können. So konnten die Gott sei Dank mit dem Schrecken davon gekommenen Fußgänger nur ihren Schutzengeln danken, die auch sonntags alle Hände voll zu tun haben.

Dieser Text erschien am 14. März 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 13. März 2016

Ein neuer Ort der Seelsorge: St. Marien-Hospital weiht neue Kapelle ein

Bildhauer Ernst Rasche und Weihbischof Franz Grave
bei der Einweihung der Neuen Kapelle im St. Marien-Hospital
In Zeiten, in denen Kirchen geschlossen oder umgewidmet werden, ist die Einweihung einer neuen Kirche ein Grund zum Feiern. Das taten jetzt knapp 90 katholische und evangelische Christen im St. Marien-Hospital. Dort konnten der emeritierte Weihbischof, Franz Grave und Stadtdechant Michael Janßen die neue Kapelle des Katholischen Krankenhauses einweihen.
Dieser Raum steht Menschen aller Glaubensrichtungen offen, die Trost und Hoffnung suchen oder danken wollen“, betonte der Geschäftsführer des Marien-Hospitals, Hubert Brams.
Nicht nur er zeigte sich von „der schlichten und sensiblen Gestaltung dieses Andachtsraumes“ beeindruckt, den der 89-jährige Bildhauer Ernst Rasche zusammen mit seinem Sohn Christoph, dem Architekten Jochen Plato und dem zuständigen Projektleiter des St. Marien-Hospitals, Markus Rau, innerhalb von zehn Monaten bewerkstelligt hatte. Ernst Rasche, der unter anderem auch die katholische Stadtkirche St. Mariae Geburt durch seine Kunst geprägt hat, gestaltete nicht nur den aus Eichenholz geschaffenen Altar und den dazu gehörigen Ambo, sondern auch den mit bergischem Graubackstein belegten Boden und die mit abstrakten christlichen Motiven verzierten Fenster der neuen Kapelle. An die neue Kapelle schließt sich ein Abschiedsraum für Verstorbene und Hinterbliebene an.
Es ist ein gutes Zeichen, dass dieser Gottesdienst- und Andachtsraum nicht irgendwo am Rande oder unter dem Dach, sondern im Zentrum des Krankenhauses, an der Schnittstelle zwischen seinem Alt- und seinem Neubau zu finden ist“, betonte Grave. Wie der in St. Mariae Geburt als Seelsorger wirkende Weihbischof, unterstrich auch Klinik-Geschäftsführer Brams: „Ein christliches Krankenhaus braucht nicht nur moderne Medizin und Technik, sondern auch Seelsorge. Hier geht es nicht nur um Heilung, sondern auch um Heil.“

Das 1887 gegründete St. Marienhospital hatte bereits von 1949 bis 2009 eine Krankenhauskapelle, die aber vor sieben Jahren neuen Patientenzimmern weichen musste. Holzstatuen von Maria und Josef, ein altes Holzkreuz, das hinter dem neuen Altar steht, der alte Tabernakel und ein 1949 vom Thyssen-Vermögensverwalter Karl Härle gestiftetes Triptychon aus dem 16. Jahrhundert stammen noch aus der alten Krankenhauskapelle und verbinden so augenfällig Vergangenheit und Gegenwart. Krankenhaus-Geschäftsführer Brams ließ in seinem Grußwort keinen Zweifel daran, dass die Einrichtung der neuen Krankenhauskappelle nur mit Hilfe großzügiger Spender und mit der finanziellen Unterstützung des von Ingrid Goertz geleiteten Fördervereins des St. Marien-Hospitals möglich geworden sei.

Dieser Text erschien am 12. März 2016 im Neuen Ruhrwort

Samstag, 12. März 2016

An der Müll-Front: Wer zwischen 7 und 15 Uhr mit den beiden MEG-Müllmännern Tommy Maschollek und Benny Schmidt unterwegs ist, erlebt einen Knochenjob und viel Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr

Mit solch einem Fahrzeug sind
Tommy Marschollek und sein Kollege
Benny Schmidt an jedem
Werktag unterwegs.
Morgens um Sieben bei der Mülheimer Entsorgungsgesellschaft MEG. Im Büro des Disponenten Siegfried Fink herrscht bereits ein reges Kommen und Gehen. Ein letzter Blick auf seinen Computerbildschirm zeigt ihm, wer heute welche Tour fährt, wer da ist und wer sich krank gemeldet hat. Tommy Maschollek und sein Kollege Benny Schmidt sind zur Stelle. Sie werden heute mit ihrem zehn Meter langen und zweieinhalb Meter breiten Presswagen durch das Revier 8 fahren, um acht Altpapier-Container-Standorte und rund 300 Blaue Tonnen zu entleeren. Das Revier 8 umfasst etwa das gesamte Stadtgebiet, mit Ausnahme von Styrum und Speldorf. Diese Stadtteile stehen erst am folgenden Tag auf ihrem Fahrplan. Doch bevor es los geht, stärken sie sich mit einer Tasse Kaffee und steigen in ihre orange-blau-reflektierende Arbeitsmontur. Zu der gehören neben dicken Arbeitschuhen mit Stahlkappe und Stahlsohle auch Handschuhe mit rauer Oberfläche.

7.10 Uhr Tommy (bei der MEG ist man per Du) startet den Motor seines 15-Tonners. Sein Kollege Benny nimmt auf der Beifahrerseite Platz. Die Aufgaben sind klar verteilt. Tommy (55) ist der Fahrer und Benny (25) sein Lader. Doch schon beim ersten Containerstandort springt Tommy auch aus dem Wagen, um seinem Kollegen zu helfen, die 1100 Liter fassenden Altpapier-Roll-Container über den Bürgersteig zur Schüttung ihre blauen Presswagens zu bugsieren. Einen Knopfdruck später hängt der Container am Haken der Schüttung, die sich, wie von Geisterhand hebt und den Container nach vorne in die Tiefe des Laderaumes entleert. „Je nachdem, wie voll so ein Container ist, kann er schon mal 180 bis 220 Kilo schwer sein“, weiß Tomi. Die elektrische Schüttung schlägt den Container noch einmal nach vorn. „Papier rutscht eigentlich sehr leicht in den Laderaum. Da braucht man nur einen Schlag einzustellen“, erklärt Benny.

Schon beim nächsten Containerstandort bewähren sich die stahlverstärkten Arbeitsschuhe, als die Müllmänner über ein Scherbenmeer zum Altpapiercontainer stapfen müssen. „Hätte wir jetzt normale Straßenschuhe, wären die Sohlen schon durch“, stellt Tommy fest.

Eigentlich sollte die Bezeichnung Altpapier- und Altglascontainer eindeutig und von jedem zu verstehen sein. Doch offensichtlich entledigen sich einige Zeitgenossen vom Stamme Dreckspatz an den Containerstandorten gleich ihres halben Hausstandes. „Wir haben auch schon mal Bauschutt in den Altpapiercontainern“, berichtet Tommi.

Der gelernte Dachdecker, der nach einer Job-Flaute in seiner alten Branche vor 21 Jahren zur MEG kam, schüttelt immer wieder den Kopf: „Man kann kostenfrei den Sperrmüll bestellen und für weniger als 10 Euro bei der MEG an der Pilgerstraße in Dümpten Bau- und Schadstoffe entsorgen oder diese auch zum Schadstoffmobil bringen. Doch leider gibt es viele Typen, die denken: Hauptsache, ich habe meinen Mist weg und nach mir die Sintflut“, beschreibt Tommy die Situation.

In der Dunkelheit des frühen Januar-Morgens wird auch deutlich, warum die Männer von der MEG leuchtende Westen und Hosen tragen müssen. Obwohl ihr stehendes Pressfahrzeug mit seinen Rundumwarnleuchten auch in der Dunkelheit nicht zu übersehen ist, rauschen die Autos nur Zentimeter und manchmal sogar nur Millimeter an dem Koloss und den beiden Müllwerkern vorbei. Vorsicht, Rücksicht und Geduld scheinen bei den Herrschaften hinter dem PKW-Steuer unbekannt zu sein.

Auch später am Tag, als Benny und Tommy mit ihrem blauen Müllriesen die Containeranlagen hinter sich gelassen haben und zum Teil im Schritttempo von einer blauen Tonne zur nächsten fahren, erleben sie immer wieder ihr blaues Wunder. Weil Fahr- und Gehwege zugeparkt sind oder eilige Autofahrer partout nicht warten wollen und noch eben schnell auf dem Bürgersteig am blauen MEG-LKW vorbeirauschen, wird Fahrer Tommy immer wieder zu waghalsigen Manövern gezwungen. Trotz Servolenkung und einer dritten, mitsteuernden Achse, die den Wendekreis des Presswagens minimiert, muss Tommy immer wieder kräftig kurbeln und gleichzeitig in alle Außen,- Rück- und Seitenspiegel schauen, um Sach- und Personenschaden zu vermeiden.

Auch wenn Benny aussteigt oder hinten auf einem Trittbrett mit zwei Haltegriffen mitfährt, um möglichst schnell eine nach der nächsten Blauen Tonne auf den Haken zu nehmen und in die Tiefe des Laderaumes entleeren zu lassen, muss er immer wieder höllisch aufpassen, nicht von den Rasern auf vier und zwei Rädern mitgenommen zu werden. „Das ist für uns Alltag“, sagt Tommy mit einem leicht resignativen Unterton. „Viele Menschen stehen heute unter einem wahnsinnigen Zeitdruck. Sie sind oft hektisch und fühlen sich getrieben. Oft ist auch die Angst vor dem Job-Verlust mit im Spiel“, versucht sich Tommy in einer Erklärung der offensichtlich „normal“ gewordenen Unverschämtheiten und Rücksichtslosigkeiten im Straßenverkehr.

Doch Tommy muss nicht nur fahren. Neben seinem Lenkrad liegt eine Liste, auf der er genau nachhält und ankreuzt, welcher Haushalt eine Blaue Tonne hat und wo diese im Rahmen eines sogenannten Vollservice am Haus stehengelassen werden darf. Oder aber im Rahmen eines Gebührenrabatts am Straßenrand abgestellt werden muss, damit dort die blaue Tonne dann entleert wird. „Manchmal stellen die Leute auch nur deshalb nicht an den Straßenrand, weil sie einfach noch halbleer sind“, weiß Benny. Neben seiner Liste hat es Fahrer Tommy auch noch mit einem kleinen Bordcomputer zu tun, in den er die Kennnummern der verschiedenen Containerstandorte eintippen muss, damit die jeweiligen Füllmengen genau registriert werden können. Am Ende eines Arbeitstages haben Tommy und Benny 88 Kilometer zurück gelegt und 8,7 Tonnen Altpapier eingesammelt, die sie bei MEG-Reimondis in Oberhausen abliefern, und dort auf den Papierbergen abladen, die auf dem Gelände der Oberhausener Müllverbrennungsanlage auf ihren Abtransport und ihre weitere Verwertung warten. Am Ende eines Arbeitstages, an dem sich die Müllabfuhr auch beim Altpapier als Knochenjob gezeigt hat, meint Tommy: „Eigentlich wäre es sinnvoll, die blaue Tonne für alle Haushalte verpflichtend einzuführen, um sich die Containerstandorte, die nur Dreck fabrizieren, sparen zu können.“


Dieser Text erschien am 13. Februar 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Freitag, 11. März 2016

Wenn Fernsehen bildet Mit Lingua TV lernen in Mülheim derzeit 60 Flüchtlinge Deutsch. Es könnennoch mehr werden: Arbeitsagentur und Burger-Kette machen es möglich

Fernsehen bildet. Der 28-jährige Mohammed Mousavi und der 20-jährige Mohammed Rezaj Jami sind der beste Beweis. Die beiden Iraner leben erst seit sechs beziehungsweise vier Monaten in Mülheim. Dennoch können sie sich schon jetzt mit einem Mix aus einfachen deutschen und englischen Sätzen im deutschsprachigen Alltag zurechtfinden. Ein Sprachkurs der Agentur für Arbeit und der interaktive Online-Kanal Lingua TV machen es möglich.

Als der örtliche Mit-Sponsor Marcus Prünte an diesem Morgen in dem von Simona Blumkowski betreuten Selbstlernzentrum der Agentur für Arbeit vorbeischaut, lassen ihn Mousavi und Jami an ihren aktuellen Online-TV-Lektionen teilhaben. Jami trainiert im Frage-Antwort-Spiel mit seinen Gesprächspartnern aus dem Alltagsvideo „die erste Begegnung“: Wie heißt du? Wo wohnst du? Ich heiße.?.?. und wohne.?.?.

Sein Landsmann Mousavi, der in Teheran zuletzt ein Imbiss-Lokal betrieb, ist schon etwas weiter. Mit seinen Gesprächspartnern aus dem Online-Video-Kanal unterhält er sich über die Zubereitung eines Kartoffelsalates. „Gurken, Zwiebeln, Kartoffeln“ und: „Die Kartoffeln müssen geschält werden. Du willst die Kartoffeln doch nicht mit der Schale essen“, wiederholt er und schreibt die neuen Vokabeln und Sätze in seinen Notizblock. Jami tut es ihm gleich. Die deutschen Artikel der, die, das und die richtige Verwendung der ähnlich klingenden Worte kennen und können – beides macht den beiden Deutschlernern das Leben schwer. Aber man merkt ihnen an, dass sie hoch motiviert sind und dranbleiben wollen.

Obwohl die beiden Iraner erst seit wenigen Monaten im Saarner Flüchtlingsdorf an der Mintarder Straße leben, bezeichnen sie Deutschland als „unsere neue Heimat“, in der sie eifrig die Landessprache erlernen wollen, um möglichst bald hier nicht nur leben, sondern auch arbeiten und Geld verdienen zu können. Auch wenn die beiden noch keine anerkannten Asylanspruch haben, geht Agentur-Chef Jürgen Koch davon aus, „dass sie eine Bleibeperspektive haben.“ Denn Mousavi und Jami sind zu Fuß und per Boot aus ihrer Heimat über die Türkei und Griechenland bis nach Mülheim gekommen, weil den zum Christentum konvertierten ehemaligen Moslems in ihrem islamischen Heimatland die Todesstrafe droht.

„Man merkt ihnen an, dass sie Lust haben, hier zu leben und zu arbeiten“, findet Marcus Prünte. Er sieht sein Engagement als Mülheimer Franchise-Nehmer von McDonalds nicht nur als „Teil unserer sozialen Verantwortung für die Integration der Flüchtlinge“, sondern auch als Chance, „–motivierte Mitarbeiter zu gewinnen.“

Weitere Informationen erhalten Interessierte unter der E-Mail-Adresse: muelheim-ruhr.121-Vermittlung@arbeitsagentur.de 



Dieser Text erschien am 8. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

Donnerstag, 10. März 2016

"Demenz ist nicht das Ende": Drei Fragen an Elke Riedemann vom Servicezentrum Demenz Westliches Ruhrgebiet

Elke Riedemann vom Serviczentrum
Demenz Westliches Ruhrgebiet
Rund 3000 Mülheimer sind demenziell verändert. Eine von ihnen ist die 57-jährige Viktoria von Grone. In einer Ausstellung, die vom 11. März  bis zum 19. April in der Sparkasse am Berliner gezeigt wird. Sie lässt uns mit den Fotos von Claudia Thoelen und den Texten von Viktoria von Grone in den Alltag einer Demenzpatientin schauen. Ein Gespräch mit Elke Riedemann vom Servicezentrum Demenz Westliches Ruhrgebiet, das mit der Alzheimer-Gesellschaft und der Sparkasse dazu einlädt.

Frage: Was raten Sie demenziell veränderten Menschen und Ihren Angehörigen?

Antwort: Elke Riedemann: Betrachten Sie den kognitiv eingeschränkten Menschen mit Demenz nicht nur als Kranken, sondern als Menschen mit allen seinen Bedürfnissen. Unternehmen Sie gemeinsam Dinge, die Freude bereiten. Nehmen Sie weiter am Leben teil, verstecken Sie sich nicht. Offener Umgang mit Demenz fördert Umsichtigkeit und Unterstützungsbereitschaft in der Nachbarschaft und in der Gesellschaft.

Frage: Was kann Betroffene entlasten?

Antwort: Entlastung bietet neben dem Betreuungsangebot und der Angehörigen­gruppe des Pflegedienstes auch der gemeinsame Besuch von Musik-, Bewegungs-, Kunst- und Kulturangeboten. Es gibt jeden Monat das Tanzen im Schloss Broich, Treffen in der Ev. Familienbildungsstätte oder die Konzerte in der Musikschule. Die Museumsführungen im Kunstmuseum Alte Post und im Ledermuseum. Menschen mit Demenz möchten nicht nur betreut werden, sie schätzen es, mit dabei sein.

Frage: Was zeigt uns die Ausstellung?

Antwort: Das Beispiel Viktoria von Grones kann uns allen Mut machen, offener mit dem Thema Demenz umzugehen und Unterstützung einzufordern und anzunehmen.


Dieser Text erschien am 9. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

Mittwoch, 9. März 2016

So gesehen: Vom Schutzengel begleitet

Manchmal sieht man Dinge, die man nicht für möglich hält. Da schlenderte ein junger Mann mit einem Baby auf dem Arm die Straße entlang. War es der Vater? Oder der große Bruder der Schwester? Während man grübelte, überquerte der junge Mann geistesabwesend die Straße, an einer Stelle, die weder mit einer Ampel noch mit einem Zebrastreifen dafür gedacht wäre. Der Autoverkehr floss zügig. Doch der Mann und das Baby wurden scheinbar von einer Heerschar von Schutzengeln begleitet, die die Autofahrer mit der Geistesgegenwart ausstatteten, rechtzeitig abzubremsen. Bleibt zu hoffen, dass die Schutzengel weiterhin an der Seite der beiden „Glückspilze“ unterwegs sind, um auch ihnen bei Zeiten den einen oder anderen Geistesblitz einzugeben.

Dieser Text erschien am 7. März 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Dienstag, 8. März 2016

Der Mensch als Witzfigur: Das Backsteintheater bringt Richard Beans Typenkomödie "Ein Mann, zwei Chefs" auf die Bühne

Jost Schenck (links) als Francis Henshall und
Simonde Adelhütte als Kellner Alfie.
(Foto: Walter Schernstein)

„Das war witzig und schnell“, fand nicht nur der Geschäftsführer des Evangelischen Krankenhauses, Nils Krog. Das Backsteintheater hatte auch bei seiner 27. Premiere die Lacher auf seiner Seite. Dem Wortwitz des englischen Autors Richard Bean sei Dank.

Das Ensemble um Regisseur Heribert Lochthove und Hauptdarsteller Jost Schenck konnte mit seiner Premierenleistung zufrieden sein, auch wenn man an der einen oder anderen Stelle merkte, dass die professionellen Amateurschauspieler noch nicht das Optimum ihrer Möglichkeiten erreicht haben und hier, wie dort, noch etwas mehr Spritzigkeit, Tempo und Spontanität hätte überspringen können.

Dennoch muss man es aufrichtig bewundern, dass Menschen, die nebenberuflich auf einem hohen Niveau Theater spielen, die doppelte Herausforderung der Komödie „Ein Mann, zwei Chefs“ meisterten, in dem sie immer wieder zwischen Sprechtheater und Gesang wechseln mussten. Vor allem Hauptdarsteller Jost Schenck, alias Francis Henshall und das junge Multitalent Jonatan Blomeier meisterte
n diese Herausforderung in bemerkenswerter Weise. Zweifelsohne wäre die Typenkomödie über den Irrwitz menschlicher Charaktere und ihrer Widersprüche auch ohne musikalische Einlagen unterhaltsam gewesen. Aber dann hätte man Jonatan Blomeiers Spontan-Band und die beiden sehens- und hörenswerten Sängerinnen Jenny Baran und Saana Heidelberg in ihren hübschen Petticoats vermissen müssen. Das wäre schade gewesen. Und man hätte auch die kleine aber urkomische Rolle verpasst, die Backstein-Routinier Simone Adelhütte als Oldie-Kellner Alfie einfach herrlich auf die Bühne zauberte.

Überhaupt ist das Backsteintheater mit „Ein Mann, zwei Chefs“ offensichtlich zu einem Mehr-Generationen-Theater herangereift, in dem nicht nur junge Talente, wie Jonatan Blomeier (als überspannter Jüngling) und Anna Lena Höhne als seine begriffsstutzige Verlobte Pauline ihr aufbaufähiges schauspielerisches Potenzial aufblitzen ließen.

Auch der doppelbödige Winkeladvokat Harry Dagle, herrlich doppelbödig von Backstein-Routinier Andre Spira gespielt und der intellektuell begrenzte, aber dafür doppelt und dreifach gerissene und Selbstbewusstsein vortäuschende Gangsterboss Charlie Clench, dargestellt von Frank Bollhöfer, wurden dank ihrer Verkörperung im besten Sinne des Publikums zu Witzfiguren.

Klein, aber fein und unverzichtbar war auch die von Alexandra Glienke wunderbar schnoddrig gespielte Clench-Freundin und Wirtin Loretta. O-Ton mit Blick auf Charlie: „Wenn du schon mal die Wurstbrötchen bestellt hast, kannst du alter Geizhals auf keinen Fall die Hochzeit deiner Tochter ausfallen lassen.“ Nach der Premiere dankte Regisseur Lochthove dem gar nicht geizigen Ev. Krankenhaus dafür, „dass es uns immer wieder eine tolle Theater-Infrastruktur zur Verfügung stellt.“

Weitere Informationen zum Theater- und Kulturprogramm des Evangelischen Krankenhauses finden Sie unter: www.evkmh.de/kultur

Dieser Text erschien am 7. März 2016 in NRZ & WAZ

Montag, 7. März 2016

Die aus dem Senegal stammende Mülheimerin Gilbert Raymonde Driesen baut Brücken im globalen Dorf

Gilbert Raymonde Driesen
Mülheim wird bunter. Menschen aus mehr als 100 Nationen leben in unserer Stadt. Eine von ihnen ist Gilbert Raymonde Driesen. Vor 42 Jahren wurde die Pädagogin und zweifache Mutter im westafrikanischen Senegal geboren. Dort unterrichtete sie als Gaymnasiallehrerin Deutsch und Französisch. Vor acht Jahren kam sie der Liebe wegen nach Mülheim, obwohl sie damit ihren Beamtenstatus aufgeben musste und ihre Bildungs- und Berufsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt wurden. Deshalb arbeitet sie heute als Dozentin in der Erwachsenenbildung und sorgt dafür, dass Zuwanderer in Integrationskursen Land, Leute, Kultur und Sprache kennen lernen, um wie sie, hier anzukommen.
Doch auch wenn sie den Familiennamen ihres deutschen Ehemannes Andre angenommen hat, fühlt sich Gilbert weiter mit ihrer Heimat im Westen Afrikas verbunden. "Der senegalesische Staat hat viel für mich und meine Ausbildung getan. Das kann und will ich nicht vergessen", sagt sie. Deshalb hat Driesen jetzt zusammen mit 15 Unterstützern aus Mülheim den Verein Axatin (Bildung/Aufklärung) gegründet, um in ihrer Heimatregion, im Osten des Senegal den Ausbau einer Schule in Windoutioulaye zu ermöglichen.

"Obwohl im Senegal die Schulpflicht gilt und der Schulbesuch kostenlos ist, ist die Schulbildung und die Schul-Infrastruktur des 13-Millionen-Einwohner-zählenden Landes bis heute unzureichend. Das gilt vor allem für die ländlichen Regionen außerhalb der 3 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Dakar", erklärt Driesen die Ausgangslage.

Das Bildungsdefizit im Senegal drückt sich in einem Analphabeten-Anteil von 65 Prozent aus. 78 Prozent des Volkseinkommens werden in der Landwirtschaft verdient, obwohl das westafrikanische Land auch Rohstoffe, wie Gold, Erdöl, Eisenerz und Phosphat hat. Immer noch gehen viele Kinder und vor allem viele Mädchen nicht oder nur für einige Jahre zur Schule, weil sie auf dem Feld oder im Haushalt mitarbeiten müssen.

Perspektiven schaffen

"Aber nur Bildung kann den jungen Leuten im Senegal eine Lebensperspektive schaffen und verhindern, dass sie eines Tages als Flüchtlinge das Land in Richtung Europa verlassen", betont Gilbert Raymonde Driesen. 58 Prozent der Senegalesen sind heute unter 20 Jahren. Die Geburtenrate liegt derzeit bei 5 Kindern pro Frau. In Deutschland liegt sie nur bei 1,3.

Driesen und ihr Axatin-Team wissen, dass sie nicht das gesamte Bildungsdefizit des Senegals oder anderer afrikanischer Länder lösen können. Deshalb haben sie jetzt ein konkretes Projekt ins Auge genommen, die 20 Kilometer von der ost-senegalesischen Küste entfernte und in der Savanne gelegene Dorfschule von Windoutioulaye.

Vor Ort hat Driesen ein Netzwerk geknüpft, das erste positive Folgen hatte. Mit Unterstützung der Dorfgemeinschaft und des senegalesischen Schulministeriums konnten bereits drei Klassenräume errichtet werden, in denen derzeit 84 Kinder von drei Lehrern unterrichtet werden. Langfristig sollen sieben weitere Klassenräume, eine Mensa und Lehrerwohnungen errichtet werden, um die Grundschule zu einer weiterführenden Schule ausbauen zu können. Auch ein Brunnen und ein Zaun sind bereits errichtet worden. "Es geht uns als Verein darum, die Menschen vor Ort einzubeziehen und sie so zur Selbsthilfe zu ermutigen", sagt Driesen.

Die ersten Signale aus Windoutiou ermutigen Driesen und ihre Mülheimer Unterstützer. Der Dorf-Bürgermeister hat die notwendigen Baugrundstücke zur Verfügung gestellt. Das senegalesische Schulministerium schickt die notwendigen Lehrer. Außerdem haben sich einige Mütter im Dorf bereit erklärt einen Schulgarten und eine Schulkantine zu betreuen. Hinzu kommt, das Driesen eine brandenburgische Studentengruppe als Entwicklungshelfer auf Zeit gewinnen konnte. Sie wollen im Rahmen eines Studienprojektes den Schulgarten in Windoutioulaye mit aufbauen.

Zukunftspläne

Langfristig möchten Driesen und ihre Mitstreiter mehr aktive Vereinsmitglieder gewinnen. Der Jahresbeitrag des Vereins liegt bei überschaubaren 24 Euro. Und für monatlich 20 Euro kann man Waisenkindern und Sozialwaisen in Windoutioulaye den Schulbesuch und damit eine Zukunftsperspektive ermöglichen. Driesen möchte ihr Projekt gerne auch in Mülheimer Schulen vorstellen und langfristig eine Partnerschaft zwischen einer Mülheimer Schule und der Dorfschule von Windoutioulaye begründen. "Solche Schulpartnerschaften werden vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit bis zu 10.000 Euro gefördert", weiß Driesen.

Wer Gilbert Raymonde Driesen und ihren gemeinnützigen Verein Axatin e.V. unterstützen möchte, kann unter www.axatin.de oder info@axatin.de sowie unter den Rufnummern: 0208/4447761 oder: 0151/21783356 Kontakt zu ihr aufnehmen.

Dieser Text erschien am 20. Februar 2016 in der Mülheimer Woche

Sonntag, 6. März 2016

Hoch motiviert und hilfsbereit: Die Realschule Stadtmitte ehrte jetzt unter anderem zwei "Seiteneinsteiger", die mit ihrer Integrationsbereitschaft ein gutes Beispiel für gleichaltrige Flüchtlinge und Zuwanderer geben

Die 1929 als Mittelschule eröffnete
Realschule Stadtmitte an der
Oberstraße
„Wir haben Kinder oft nur dann im Blick, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Zu selten loben wir sie, wenn sie etwas gut gemacht haben“, sagt Sabine Dilbat.
Deshalb haben die Rektorin der Realschule Stadtmitte und ihre 50 Lehrerkollegen jetzt Schüler eingeladen und mit einer Rose und einem kleinen Präsent geehrt, weil sie etwas richtig gut gemacht haben – als Schulsanitäter, erfolgreiche Wettbewerbsteilnehmer oder als Teilnehmer einer Arbeitsgemeinschaft, die mit einem Handwerksmeister am Ruhrufer lebensrettende Hinweis-Schilder für die Feuerwehr aufgestellt haben.

Unter den Geehrten sind diesmal auch zwei „Aufsteiger des Jahres“: die 15-jährige Ermina-Maria aus Rumänien und der 13-jährige Karam aus dem Irak. Die beiden Schüler, die erst seit wenigen Monaten die Realschule Stadtmitte besuchen, „sind sehr motiviert und hilfsbereit. Sie sind nicht nur fleißig und haben rasche Sprachfortschritte gemacht, sondern sie haben auch immer ihre Mitschüler im Blick“, berichtet Christoph Weßkamp.

Internationale Vorbereitungsklasse

Er ist einer von sechs Lehrern, die mit einer entsprechenden Qualifikation in der Internationalen Vorbereitungsklasse Deutsch als Zweitsprache unterri
chten. „Wir haben es mit ganz unterschiedlichen Kindern und Jugendlichen zu tun. Das Spektrum reicht vom Analphabeten bis zum Schüler, der bereits eine erfolgreiche Schulkarriere hinter sich hat“, schildert Rektorin Dilbat die Situation in der Klasse, in der 36 Schüler aus zehn Nationen mit zwölf Wochenstunden Deutsch an den Regelunterricht herangeführt werden.


„In Mülheim ist alles gut“, sagen Ermina-Maria und Karam und strahlen dabei über das ganze Gesicht. „Dass die Lehrer uns helfen und nicht schlagen, wenn wir einen Fehler gemacht haben“, finden sie ganz toll. Besonders gerne erinnert sich Karam daran, dass ihn seine deutschen Mitschüler in ein Schnellrestaurant eingeladen und ihm ein Lesebuch geschenkt haben, mit dem er jetzt seine Deutsch-Kenntnisse trainiert. Ermina-Maria lernt mit einem Geschichtsbuch. 


Beide helfen regelmäßig zugewanderten Mitschülern, die im Schulalltag noch nicht so gut zurecht kommen, wie sie. Mit großem Ernst und Verantwortungsgefühl hat Karam die Aufgabe des Klassenbuchführers übernommen. Großartig findet es der jesidische Junge, der in der Nähe von Mossul aufgewachsen ist, dass er ganz ruhig über die Straße gehen kann, ohne Angst vor einem Bombenanschlag zu haben. Allerdings bedrückt ihn, dass sein Vater noch in Mossul und er mit seiner Mutter in Saarn lebt. Zwei bis dreimal pro Woche erzählt Karam seinem Vater via Skype-Bildtelefon von seinen schulischen Fortschritten und hofft, ihn bald wieder in die Arme nehmen zu können. 

Anders, als seine Mitschülerin Ermina-Maria, die es liebt, mit ihren Eltern und ihrem sechsjährigen Bruder an der Ruhr spazieren zu gehen, weiß Karam schon genau, warum er so fleißig in der Schule ist: „Ich will Arzt werden“, sagt der 13-Jährige.

„Angesichts der belastenden und unsicheren Situation, in der die Kinder leben, ist ihre Lern- und Integrationsleistung besonders hoch zu bewerten“, unterstreicht Schulleiterin Sabine Dilbat. Ermina-Maria, Karam und die anderen Schüler, die geehrt wurden, können sich über Gutscheine für Bücher und fürs Kino freuen – gestiftet vom Förderverein der Schule.



Dieser Text erschien am 4. März 2016 in der NRZ und in der WAZ

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