Gestern Mittag hatte ich ein Gefühl, wie Weihnachten. Und das aus gutem Grund.
Denn nach dem Mittagessen tischte mir Mutter einen Christstollen auf. „Haben wir
denn nicht schon bald Ostern?“ fragte ich verwirrt. „Deshalb, ja. Der Stollen
kommt aus dem Frosterfach und muss jetzt mal weg“, klärte mich Mutter auf. Sie
kommt aus der Kriegsgeneration, die aus guten Gründen keine Lebensmittel
wegwerfen kann, die noch genießbar sind. Also Augen zu und rein. Und siehe da,
der Christstollen aus der Kühlung hatte sich gut gehalten und vermittelte ein
Geschmackserlebnis zwischen Stuten und Rosinenbrot. Viel besser kann es bei
einem Osterfrühstück auch nicht schmecken. Und bei genauerem Hinschauen, könnte
man im Christstollen auch ein Osterlamm erkennen. Im Leben ist eben alles eine
Frage der eigenen Interpretation und Perspektive. Das musste ich auch erkennen,
als ich nach dem Mittagessen, winterlich gekleidet, zu einem Stadtrundgang
aufbrach und dabei einen jungen Mann sah, der in Jeans und kurzärmeligem T-Shirt
vor einem Café saß, und sich dort in aller Ruhe einen frühlingshaft anmutenden
Salat schmecken ließ, frei nach der Devise: „Wann der Frühling anfängt, bestimme
ich immer noch selbst.“ Was mich in meiner Witterungswahrnehmung bestätigte, war
seine Freundin, die, neben ihm sitzend, im Wintermantel eine warmen Tee
schlürfte.
Dieser Text erschien am 17. Februar 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung
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