Samstag, 30. September 2017

Grundschulkinder aus dem Dichterviertel wurden vom Kinderhilfswerk für ihren Einsatz in Sachen Kinderrechte ausgezeichnet

Aktiv für Kinderrechte
Das Deutsche Kinderhilfswerk lud 52 Kinder und Eltern der Grundschule im Dichterviertel mit Hilfe von Sponsoren und Spendern zum Weltkindertagswochenende nach Berlin ein. Mit ihrem Einsatz und pfiffigen Ideen zu den Kinderrechten, gewannen sie den Bundespreis des Kinderhilfswerkes. 

Projekt zu Kinderrechten

"Dort haben wir unser Projekt beim Weltkindertagsfest am Potsdamer Platz vorgestellt und bei einer Stadt-Rallye auch das Kanzleramt besucht. Dort arbeitet die Frau Merkel und denkt darüber nach, was man Neues für Deutschland machen kann", erzählt Samira. Und ihre Mitschülerin Jasmina ergänzt: "Wir wissen jetzt, dass wir als Kinder Rechte, aber auch Pflichten haben."
Die Schüler der zweiten bis vierten Grundschulklasse besuchen die Gemeinschaftsgrundschule am Dichterviertel in der Bruchstraße. Im Sachkundeunterricht und in einer Arbeitsgemeinschaft haben sich 28 Kinder unter der Anleitung ihrer Lehrerin Renate Naderwitz mit dem Thema Kinderrechte beschäftigt. Das Ergebnis der Bundestagswahl spiegelt es wider: Mit politischer Bildung kann man nicht früh genug beginnen. Wie das geht und warum das Spaß macht, zeigen Jasmina, Aebra, Mila, Luisa, Hiba, Britney, Samira, Alaa und Alyssa. 

Kalender von Kindern für Kinder

Das Ergebnis ist ein von den Kindern gemalter Jahreskalender, der die Kinderrechte ins Bild setzt. Alle 187 Kinder aus der Grundschule am Dichterviertel nahmen teil. Zwölf Monatsmotive wurden ausgewählt. Oriana, acht Jahre jung, malte zum Beispiel für das Januar-Blatt Kinder mit unterschiedlichen Hautfarben. Unter ihrem Bild steht: "Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf benachteiligt werden." Alisha, ebenfalls 8 Jahre alt, schreibt für den Monat März: "Alle Kinder haben bei allen Fragen, die sie betreffen, das Recht mitzubestimmen." 
Dazu sehen wir eine dicke schwarz-rot-goldene Kladde mit der Aufschrift "Klassenrat." Denn in den Klassenräten und in einem „Schulparlament“ werden die Grundschüler von der Bruchstraße an die Spielregeln der Demokratie herangeführt. Und auf dem Kalenderblatt für den April zeigt die neunjährige Samira mit einem Bild, auf dem eine Kirche und eine Moschee nebeneinander stehen, "dass Kinder das Recht auf ihre eigene Kultur haben."

Kinderrechte in Film und Farbe

Doch da die von Nicola Küppers geleitete Grundschule mit Unterstützung der Sparkassenstiftung im digitalen Zeitalter angekommen ist, beließen es die pfiffigen Grundschüler um Renate Naderwitz nicht bei den gemalten Kalenderblättern. Sie drehten außerdem mit ihren Tablets kleine Videoclips, um das Thema Kinderrechte in einer kindgerechten Sprache an die kleine Frau und den kleinen Mann zu bringen. Zusätzlich drehten sie Videoclips, in denen die Kinder anschaulich, authentisch und verständlich die Kinderrechte erklären. Pfiffig ist die Idee, jedes Kalenderbild mit einem QR-Code zu versehen. 

Elan und Ergebnis wurden belohnt

Mit einem Tablet oder einem Smartphone fotografiert, wird man automatisch zum entsprechenden Videoclip auf die Homepage der Schule weitergeleitet. Außerdem haben die kleinen Kinderrechtsaktivisten  - in Schulen und Kindertagesstätten - kleine Aufkleber mit den einzelnen Kinderrechten und dem dazugehörigen QR-Videoclip-Code verteilt. So können sich Interessierte alle Beiträge auf der Internetseite der Grundschule am Dichterviertel (www.ggschule-am-dichterviertel.de) anschauen. 

Verdient: eine Reise nach Berlin 

So viel Elan begeisterte nicht nur Schüler, Lehrer, Eltern und Förderer der Grundschule an der Bruchstraße: die Kinder wurden zur Preisverleihung nach Berlin eingeladen.  

Um das Thema Kinderrechte dreht sich auch eine Projektwoche, deren Ergebnisse bei einem Tag der offenen Tür am Freitag, 13. Oktober von 11 bis 14.30 Uhr in der Grundschule am Dichterviertel der interessierten Öffentlichkeit präsentiert werden.


Dieser Text erschien am 26. September 2017 im Lokalkompass und in der Mülheimer Woche

Freitag, 29. September 2017

Neues Buch berichtet über Pioniere der Mülheimer Wirtschaft und Gesellschaft

Bei der Buchpräsentation: Unternehmer Hanns-Peter Windfeder (v.l.)
Historiker Prof. Dr. Horst A. Wessel, Oberbürgermeister Ulrich Scholten
und Wirtschaftsförderer Jürgen Schnitzmeier
Es gibt sie, die Erfolgsgeschichten aus der Mülheimer Wirtschaft. Der dritte Band aus der Buchreihe „Pioniere der Mülheimer Wirtschaft und Gesellschaft“ zeigt es. 13 Autoren schlagen auf 518 Seiten einen Bogen vom Ende des 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Das von dem Wirtschaftshistoriker und ehemaligen Mannesmann-Archivar, Professor Dr. Horst A. Wessel, herausgegebene Buch dokumentiert Mülheimer Unternehmen und Unternehmerpersönlichkeiten und damit ein Stück Mülheimer Wirtschafts- und Sozialgeschichte. „Unser Buch zeigt“, sagte Wessel jetzt bei der Buchvorstellung im Haus Urge an der Bismarckstraße, „dass wirtschaftliche Erfolgsgeschichten auch in der Vergangenheit nie ein Selbstläufer waren. Sie waren immer mit Rückschlägen verbunden. Der wirtschaftliche Erfolg Mülheims stellte sich nicht nur mit der verkehrstechnisch günstigen Lage an der Ruhr, sondern auch mit der Bereitschaft ein, neue Mitbürger mit neuen Ideen rasch zu integrieren.“ 

Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt am Fluss wird in den Beiträgen des jetzt vorgelegten Buches ebenso beleuchtet, wie der Bergbau, der Maschinenbau, der Wohnungsbau, die Bäckereien, das Gesundheits- und das Verkehrswesen sowie die vor 175 Jahren gegründete Sparkasse.

Förderverein machte die Publikation möglich

„Das Buch, das mit Hilfe des Fördervereins unseres Gründer- und Unternehmermuseums entstanden ist, ermutigt auch junge Unternehmensgründer im heutigen Mülheim, weil es ihnen unternehmerische Vorbilder vor Augen führt, die sich auch von Schwierigkeiten nicht abschrecken ließen,“ freut sich der Sprecher der Mülheimer Unternehmer, Hanns Peter Windfeder. 

Mit Blick auf die Gegenwart der Mülheimer Wirtschaft sieht Windfeder vor allem die Herausforderung der Digitalisierung, die von vielen Unternehmern in ihrer umfassenden Dimension noch gar nicht begriffen worden sei. Diese Herausforderung kann nach seiner Ansicht nur dann bewältigt werden, wenn Mülheim rasch eine möglichst flächendeckende Glasfaserverkabelung für schnelles Internet bekommt.

Dr. Karsten Lemke aus der Geschäftsführung des gastgebenden Zentrums für Innovation und Technik in Nordrhein-Westfalen (Zenit) wies die Unternehmerschaft in diesem Zusammenhang auf die Beratungsangebote seines Hauses und auf die Fördermittel der Europäischen Union hin.

Das Buch im Essener Klartext-Verlag erschienene „Pioniere der Mülheimer Wirtschaft und Gesellschaft“ ist für 24,95 Euro im Buchhandel oder im Haus der Wirtschaft an der Wiesenstraße 35 bei der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Mülheim und Business erhältlich. Auskunft gibt Nadine Kroggel unter der Rufnummer: 0208/484850 oder per E-Mail an: n.kroggel@muelheim-business.de 


Dieser Text erschien am 19. September 2017 im Lokalkompass und in der Mülheimer Woche

Mittwoch, 27. September 2017

Streicheleinheiten gefällig?


Jeder von uns möchte in seinem Leben anerkannt und geliebt werden. Doch es gibt Berufe, die nicht unbedingt dafür geeignet sind, die uneingeschränkte Liebe und Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen. Das fängt schon bei meinen Kollegen und Kolleginnen von der Presse an, die ob ihrer veröffentlichten Arbeit oft gescholten und nur manchmal gelobt werden.
Da geht es den Damen und Herren aus dem Deutschen Bundestag, die morgen ihre Arbeitsverträge mit Ihnen, dem Souverän, für vier Jahre verlängern wollen, nicht anders. Denn die Ergebnisse ihrer Arbeit spüren wir Bürger am eigenen Leibe und sind deshalb nicht immer begeistert.
Wie und warum es zu diesen Ergebnissen gekommen ist, die uns manchmal erfreuen, aber oft auch ärgern, ist für den Souverän nicht immer nachvollziehbar. Nicht nachvollziehen konnte ich gestern, warum eine Mitarbeiterin des Ordnungsamtes auf offener Straße von einer Bürgerin umarmt wurde. Offensichtlich war nur, dass ihr diese Streicheleinheit gut tat. Also ich hätte nichts dagegen, auch den einen oder anderen Bundestagsabgeordneten zu umarmen, wenn er durch seine Arbeit uns die eine oder andere Streicheleinheit zukommen ließe.

Dieser Text erschien am 25. September 2017 in der Neuen Ruhr zeitung

Dienstag, 26. September 2017

Ulrike Flach: Im Zweifel für die Freiheit

Ulrike Flach, hier mit Werner Koppelin, Hans-Dietrich-Genscher
und Guido Westerwelle 2012 in der FDP-Bundestagsfraktion
Als die damalige Kreisvorsitzende der FDP, Ulrike Flach, 1998 über die Landesliste ihrer Partei in den Bundestag einzog, war sie die zweite Frau und die erste Liberale, der dies gelang.

Schon 1991 hatte die für Siemens tätige Diplom-Übersetzerin erstmals für den Bundestag kandidiert. Aber als FDP-Wahlkreiskandidaten ohne Platz auf der FDP-Landesliste hatte sie damals keine Chance auf ein Bundestagsmandat.

Den Sprung in die Bundespolitik schaffte die seit 1975 in der FDP aktive Flach dann bei der Wahl 1998. Als FDP-Abgeordnete musste sie damals zunächst auf den Oppositionsbänken Platz nehmen. Doch rasch schaffte sie den Aufstieg die Fraktionsführung. Sie war Vorsitzende  des Bildungsausschusses, FDP-Obfrau im Haushaltskontrollausschuss, gesundheits- und technologie-politische Sprecherin der FDP, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und ab 2011 parlamentarische Staatsekretärin im Bundesgesundheitsministerium. „Das ist eines der wenigen Ministerien,“ so sagte Flach damals, „in denen man noch richtig was gestalten kann und nah an den Menschen ist.“

An der Spitze einer interfraktionellen Abgeordneten-Gruppe verschaffte sie 2011 einem Gesetzentwurf zum Durchbruch, der die Pränatal-Diagnostik und die damit verbundene Option eines Schwangerschaftsabbruchs in den Fällen erlaubte, in denen Eltern aufgrund einer schweren Erbkrankheit, eine Fehl- oder Totgeburt oder eine die gesamte Familie belastende Schwerst-Mehrfach-Behinderung ihres Kindes befürchten mussten.

Flach und ihre Mitstreiter konnten sich damals auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes berufen. Das hatte 2010 mit Blick auf die Zulässigkeit der PID festgestellt, "dass es widersprüchlich wäre, einerseits die belastenden Schwangerschaftsabbrüche straffrei zu lassen und andererseits die PID, die auf einem weitaus weniger belastenden Weg dasselbe Ziel verfolgt, bei Strafe zu untersagen."

Um ethischen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, machte der am Ende im Parlament erfolgreiche Gesetzesentwurf der Flach-Gruppe zwei wichtige Auflagen. Die PID musste in einem dafür lizensierten Zentrum durchgeführt und von einer Ethikkommission gebilligt werden.

Auch für Mülheim machte Flach in Berlin ihren Einfluss geltend. Sie sorgte für die finanziellen Voraussetzungen zur Einrichtung der Lernwerkstatt Natur im Witthausbusch.

Da Flach von 1998 bis 2005, neben ihrem Bundestagsmandat, weiterhin als Übersetzerin für Siemens gearbeitet hatte, geriet sie 2005 in die Schlagzeilen und sah sich dazu gezwungen, den Vorsitz im Bildungsausschuss und den stellvertretenden Landesvorsitz der FDP abzugeben: „Das Problem bestand darin, dass die Medien meine beruflich entlohnte Tätigkeit für Siemens damals in einen Topf mit den Lobby-Gehältern warfen, die einige Kollegen aus der Politik, ohne Gegenleistung und deshalb zu Unrecht, kassiert hatten“, erinnert sich Flach.
Mit der Bundestagswahl 2013, bei der die FDP mit 4,7 Prozent der Zweitstimmen den Einzug in den Bundestag verfehlte, kam für die 2010 mit dem Ehrenring der Stadt und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Ulrike Flach, das Ende ihrer politischen Karriere. Schon 2012 hatte die damals 61-Jährige den Kreisvorsitz der Mülheimer FDP an ihren 40-jährigen Parteifreund und heutigen Landtagsabgeordneten Christian Mangen abgegeben. Gleichzeitig kündigte sie ihren Verzicht auf eine erneute Bundestagskandidatur an.

Doch Ulrike Flach bleibt auch nach ihrer Bundestagszeit bis heute aktiv, etwa als Ehrenvorsitzende der Mülheimer FDP und als Mitglied im Bezirksvorstand ihrer Partei sowie als Mitglied in den Kuratorien des Max-Planck-Institutes für chemische Energie-Konversion, der NRW-Gesellschaft für die Bekämpfung von Krebserkrankungen und der Heinz-Kühn-Stiftung zur Förderung junger Journalisten.

Dieser Text erschien am 20. September 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 24. September 2017

Wilhelm Knabe: Der fundierte Realist

Dr. Wilhelm Knabe im Bundestagswahlkampf 2017
Wilhelm Knabe war schon ein Grüner, als es die Grünen noch nicht gab. Angeregt durch seine Eltern, entwickelte  der 1923 im Kreis Dresden geborne Knabe schon als solcher früh eine intensive Naturliebe. „Sie bewegt mich bis heute und es ist mir ein Herzensanliegen, dass Kinder auch heute und morgen in Waldkindergärten, Waldspielen und Natur-Lernwerkstätten frühe Naturerfahrungen sammeln können, die ihr Bewusstsein für den Schutz der Umwelt wecken“, sagt der ehemalige 

Bundestagsabgeordnete, der am 8. Oktober seinen 94. Geburtstag feiern kann.

Als der Mit-Gründer der Grünen 1987 über die Landesliste seiner Partei in den Bundestag einzog, hatten die Grünen ihre erste Legislaturüeriode im Bonner Bundeshaus hinter sich.  „Wir wurden nicht mehr verteufelt und konnte einige unserer Vorschläge durchbringen“, erinnert sich Knabe. Für seine Fraktion saß der Wahl-Mülheimer damals im Umweltausschuss, in der Enquete-Kommission Schutz der Erdatmosphäre und im innerdeutschen Ausschuss. So konnte er mit dazu beitragen, dass der Bundestag einstimmig den Umweltschutz im Aufgabenkatalog der Auswärtigen Dienstes verankerte und eine 30-prozentige Reduzierung des klimaschädlichen CO-2-Ausstoßes beschloss.

Als Forstwissenschaftler, der sich bereits in den 50er- und 60er Jahren beruflich mit der Renaturierung von Industriebrachen und mit den Ursachen und Folgen des Waldsterbens beschäftigt hatte, konnte Knabe als Bundestagsabgeordneter nicht nur einen politischen Standpunkt, sondern auch fundiertes Fachwissen in die Debatte einbringen.

Obwohl er in den frühen 80er Jahren Bundes- und Landessprecher seiner Partei gewesen war, machten es die Grünen ihm damals nicht leicht. „Es war bei den Grünen wichtig, ob man Fundamentalist oder Realo war. Ich habe aber gesagt: Ich bin ein fundamentalistischer Realist und ein realistischer Fundamentalist“, erinnert sich der Ex-MdB an die frühen Flügelkämpfe seiner Partei. Sie sollten, und das sieht Knabe bis heute mit Bitterkeit, bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 seinen Wiedereinzug in den Bundestag verhindern. „Ich hätte in einer weiteren Wahlperiode noch viel erreichen können“, sagt Knabe heute. Vor allem in der Enquete-Kommission machte er die wohltuende Erfahrung, „dass ich einen guten Kontakt zu meinen Kollgen aus den anderen Fraktionen aufbauen konnte und so 80 Prozent meiner Vorschläge fraktionsübergreifend angenommen wurden.“

Kritisch wurde damals nicht nur bei den Grünen gesehen, dass der ehemalige DDR-Flüchtling Knabe am Ziel der deutschen Wiedervreinigung festhielt und ab Herbst 1987 im Schutze seiner parlamentarischen Immunität Oppositionsgruppen in Polen und in der DDR unterstützte. „Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr die Menschen in der DDR unter der SED-Diktatur litten und sich deshalb danach sehenten, etwas neues für sich aufzubauen“, sagt der Vater von vier erwachsenen Kindern.

Nach seiner Zeit im Bonner Bundestag arbeitete Knabe als Lehrbeauftragte für Ökologie an der Technischen Hochschule in Dresden. Außerdem engagierte er sich im Länderrat seiner Partei und an der Spitze der Grünen Alten. Die Kommunalwahl 1994 und die nachfolgende Bildung einer schwarz-grünen Ratsmehrheit brachte den ehemaligen Bundestagsabgeordneten als Bürgermeister noch einmal auf die politische Bühne.

Die Gründung der Mülheimer Energiedienstleistungsgesellschaft, die Einrichtung der Eigenbetriebe Kultur und Grün & Wald und die Verankerung der kommunalen Förderung von Energieeinsparungen und ein neues Kunst-Museum in der Alten Post waren nur einige Ergebnisse der schwarz-grünen Zusammenarbeit.

Doch nach seiner Zeit als Bürgermeister verzichtete Knabe bewusst auf weitere politische Mandate, um als Ehemann seine kranke und inzwischen verstorbene Frau zu pflegen.

Dieser Text erschien am 21. September 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Samstag, 23. September 2017

Palmen für die Politik

Gar nicht marktschreierisch,sondern still vergnügt verkaufte
der freundliche Blumenhändler aus den Niederlanden am vergangenen Samstag auf dem Rathausmarkt eine Palme nach der anderen.Auch ein Ratsherr, den man politisch
nicht unbedingt mit der Farbe Grün verbindet, der aber schon
von Amtswegen in der Gefahr steht, sich (nicht nur)über die Stadtverwaltung schwarz zu ärgern, deckte sich gerne in weiser
Voraussicht bei dem Mann aus dem Land der Tulpen mit einer Palmeein. Kein Wunder, dass das Geschäft mit den Palmen ausgerechnet vor dem Rathaus so gut ging. Denn wo könnte man leichter und schneller auf die Palme gehen oder den
Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen, als im oder mit Blick
aufs Rathaus. Zu Details, Ursachen, Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihre Lokaljournalisten und lesen Ihre lokale Tageszeitung, am besten die mit der Grundfarbe Grün.
Denn Grün ist bekanntlich die Farbe der Hoffnung. Und der Blick ins Grüne beruhigt - nicht nur Kommunalpolitiker!

Dieser Text erschien am 19. September 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Freitag, 22. September 2017

Wahl mit Handicap Heike, Melanie und Thorsten wissen trotz ihrer Behinderung genau, was bei der Wahl wirklich wichtig ist

124 000 Mülheimer haben am 24. September die Wahl. Zu ihnen gehören auch Melanie (38), Thorsten (39) und Heike (60). Deshalb studieren sie jetzt mit Peter Bürgl und Martina Hackert-Kleinken in der von der Fliedner-Stiftung und der Lebenshilfe betriebenen Kontakt- und Beratungsstelle Kokobe an der Kaiserstraße den Wahlzettel und die in leichter Sprache geschriebenen Wahlprüfsteine der Partein, die die Lebenshilfe für Menschen  mit geistiger Behinderung bei den Wahlkämpfern angefordert hat.
„Mein Gott ist der lang“, findet Thorsten, als er den Muster-Wahlzettel sieht, den Hackert-Kleinken mitgebracht hat. Auf dem Wahlzettel stehen 48 Parteien, die sich um ein Mandat im 19. Deutschen Bundestag bewerben.

Thorsten muss lachen, als er beginnt, den Wahlzettel von unten nach oben zu lesen. „ÖDP, die kenne ich gar nicht!“, sagt er. „Ökologisch, demokratische Partei“, liest ihm Martina Hackert-Kleinken vor. „Was ist das denn?“ fragt Thorsten weiter, als er auf dem Wahlzettel die Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer entdeckt. „Das ist eine Partei für Menschen, die kein Fleisch essen“, erklärt Hackert-Kleinken. „Dann ist das nichts für uns. Denn wir essen gerne Fleisch“, sind sich Melanie und Thorsten einig. Die Deutsche Tierschutzpartei erscheint ihnen da schon sympathischer. Denn beide mögen Hunde.
Melanie und Heike sind sich einig: Die nächste Bundeskanzlerin oder der nächsten Bundeskanzler „sollten unbedingt dafür sorgen, dass die männlichen Kücken nicht gleich nach der Geburt getötet werden, weil sie später keine Eier legen können.“

„NPD!“, liest sich Thorsten weiter den Wahlzettel hoch. Welche Politik hinter diesem Parteikürzel steht, fasst er mit dem Hinweis an seine Mitwählerinnen zusammen: „Die dürft ihr nicht wählen. Die haben etwas gegen Behinderte und Ausländer!“
Die Partei- und Kandidatennamen im oberen Drittel des Wahlzettels sind Heike, Melanie und Thorsten schon bekannt. CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke, AFD. Davon haben sie schon gehört. „Die Frau habe ich erst kürzlich in der Stadt getroffen und mich mit ihr unterhalten“, erzählt Heike, als sie in der linken Spalte mit den Mülheimer Direktkandidaten für den Bundestag den Namen der Christdemokratin Astrid Timmermann-Fechter entdeckt.

Martina Hackert-Kleinken schaltet sich ein: „Ihr wisst, dass ihr bei der Bundestagswahl zwei Stimmen habt?“  Melanie nickt: „Eine hier und eine da“, sagt sie und zeigt auf die linke und auf die rechte Spalte des Wahlzettels. Peter Bürgl ergänzt: „Mit euerem Kreuz in der linken Spalte sagt ihr, welcher Kandidat für den Wahlkreis Essen-Mülheim in den Bundestag gewählt werden soll. Und das Kreuz in der rechten Spalte entscheidet darüber, welche Partei im Bundestag die meisten Sitze bekommt.“

Melanie, die sich noch nicht entschieden hat, wen und welche Partei sie am 24. September wählen soll, fragt: „Darf ich sagen, was ich gewählt habe?“ Hackert-Kleinken klärt sie auf: „Die Wahl ist geheim. Das heißt, du kannst natürlich sagen, wen du gewählt hast, aber du musst es nicht!“ Melanie ist noch nicht beruhigt: „Und was mache ich, wenn die Partei, die ich gewählt habe, die Wahl verliert?“ will sie wissen. „Dann ist diese Partei in der Opposition und sagt, was sie an der Politik der Regierung schlecht findet und wie sie es besser machen würde.

„Ich glaube, ich nehme die Merkel! Die kenne ich“ sagt Thorsten plötzlich, nach dem er den Wahlzettel rauf und runter gelesen hat. Darüber kann Heike nur den Kopf schütteln: „Diese Dame ist schon viel zu lange im Amt“ sagt sie und zeigt offen ihre Sympathie für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Ihn hat sie erst vor einigen Monaten im Landtagswahlkampf mit Hannelore Kraft auf der Schloßstraße gesehen. „Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten. Aber ich bin nicht durchgekommen, weil da zu viele Leibwächter um ihn herum waren“, erinnert sie sich. Gerne erinnerte sich Heike an den SPD-Bundestagsabgeordneten Anton Schaaf. „Der hat mir mal eine Tafel Schokolade geschenkt“, berichtet sie.

Doch die Drei, die selbstständig in einer von der Fliedner-Stiftung betreuten Wohnung leben und ihr Geld, wie Heike als Hilfskraft im Theater an der Ruhr, wie Melanie in der Elektronabteilung und wie Thorsten in der Kantine der Fliedner-Werkstatt an der Lahnstraße verdienen, wollen von den gewählten Politikern mehr als Schokolade. „Eine neue Tür für unsere Werkstatt! Weniger Baustellen in der Stadt! Eine höhere Grundsicherung! Bezahlbare und barrierefreie Wohnungen! Mehr freundliche und hilfsbereite Straßenbahn- und Busfahrer! Und weniger Menschen, die schlecht über Behinderte reden!“ Das sind ihre Wünsche an ihre Mandatsträger und an ihre Mitmenschen.

Nicht jeder hat die Wahl


Laut Bundesregierung sind 84 000 Bundesbürger über 18 bei der Bundestagswahl vom Wahlrecht ausgeschlossen. In Mülheim haben, nach Angaben der Stadt, „einige 100“ Mitbürger am 24. September keine Wahl, weil sie aufgrund einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, per Gerichtsbeschluss, „in allen Lebensbereichen unter gesetzliche Betreuung gestellt worden sind.“

Per Gerichtsbeschluss kann auch inhaftierten Straftätern, die eine schwere Straftat begangen haben, das Wahlrecht auf Zeit entzogen werden.

Das Menschen aufgrund einer geistigen Behinderung nicht wählen dürfen, finden Heike, Melanie und Thorsten „ungerecht“ und „nicht richtig, weil wir doch auch dazu gehören und weil wir alle Menschen sind.“ Auch ihre Betreuer Peter Bürgl und Martina Hackert-Kleinken sind sich einig: „Menschen mit geistiger Behinderung, die ohnehin keine starke politische Lobby haben, vom Wahlrecht ausschließen ist nicht richtig. Das auch Menschen mit geistiger Behinderung wählen, darf in einer großen und starken Demokratie, wie der unseren eigentlich kein Problem sein.“ 

Dieser Text erschien am 20. September 2017 in NRZ/WAZ

Mittwoch, 20. September 2017

Ein Zeitsprung am Leinpfad

Postlkartenansicht um 1900 (Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
Müller Flora. Der Name ist in Mülheim ein Begriff. Generationen von Mülheimern haben hier in einem urwüchsigen Birgarten mit dichtem Baumbestand ein kühles oder warmes Getränk mit Ruhrblick genossen, sich eine Bratwurst im Schatten gegönnt oder sonntags Jazz gehört.

Heute schauen wir dort auf die 1882 von Katharina und August Müller eröffnete Müller Flora und das im ehemaligen Biergarten und im ehemaligen Bootshaus und Café Leinpfad errichtete Hotel am Ruhrufer. Als der Rat der Stadt 1992 den Hotelbau zwischen Dohne und Leinpfad genehmigte, Bäume gefällt wurden und der Biergarten auf einen schmalen Streifen schrumpfte, regte sich der Bürgerprotest. Die Grünen, allen voran Peter Holderberg, gingen im Biergarten auf die Bäume und sammelten 12 000 Unterschriften gegen das Projekt, Vergebens.

Schaut man auf die Postkarte aus dem Bestand des Stadtarchivs, springt man zurück ins Jahr 1900. Auf der Ruhr schippert ein Boot mit der schwarz-weiß-roten Fahne des Deutschen Kaiserreiches.  Die Kohlekähne, die noch im 19. Jahrhundert über die Ruhr fuhren, sind damals schon Vergangenheit. Die Weiße Flotte ist noch Zukunftsmusik. Für sie heißt es erst 1927 „Leinen los!“
Zwischen Leinpfad und Dohne, sieht man nicht nur das dichte Grün des Biergartens der Müller Flora, sondern auch den Schornstein des 1875 an der Dohne errichteten Wasserwerkes. Das Wasserwerk wird fast ein Jahrhundert stehen, ehe es 1970/71 von der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft abgerissen und durch ein neues Wasserwerk mit einer zeitgemäßen Wasseraufbereitungsanlage ersetzt wird.  

Dieser Text erschien am 18. September 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 18. September 2017

Oskar Dierbach: Was uns trägt, ein Interview zu den Mülheimer Bibeltagen

Oskar Dierbach
In Mülheim finden an diesem Wochenende wieder ökumenische Bibeltage statt, diesmal inspiriert vom Bibelwort: „Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

 Der 1954 als Sohn eines Maurers im Ruhrgebiet geborene und aufgewachsene Oskar Dierbach ist im Christlichen Verein junger Menschen groß geworden. Er hat eine lange Erfahrung in der christlichen Jugend- und Sozialarbeit. Seit fast 30 Jahren arbeitet der Pflegedienstleiter des Hauses Ruhrgarten in der Altenpflege. Zusammen mit engagierten Christen aller Konfessionen organisiert er, alljährlich im September, die Mülheimer Bibeltage. Was treibt ihn und seine Mitstreiter an, die am 16. und 17. September in den Altenhof an der Kaiserstraße einladen? 


Warum braucht es Bibeltage? Was können Bibeltage leisten, was ein Gottesdienst oder die persönliche Bibellektüre nicht leisten können?

Die Bibeltage sind ein offenes Begegnungsforum für Menschen, die aus ganz unterschiedlichen gemeindlichen Zusammenhängen kommen. Es sind fragende und interessierte Menschen, die hier Gemeinschaft erleben und Impulse für ihr Leben bekommen wollen. Unsere gemeinsame Grundlage ist die Bibel. Auf dieser Grundlage ist viel Platz für unterschiedliche Denkansätze und Lebensstile. Das spiegelt sich in der Diskussion aber auch in den Impulsen, die unsere Referenten geben. Hier treffen sich Menschen, die sich sonst selten oder gar nicht sehen, aber an diesen beiden Bibeltagen voneinander lernen und sich gegenseitig befruchten können. Die Begegnungen der Bibeltage ermutigen und korrigieren Menschen in ihrem Glauben und weiten so den Blick. Sie beugen damit der latenten Gefahr einer geistigen Engstirnigkeit vor.

Wie erklären Sie sich den Widerspruch, dass immer mehr Menschen den christlichen Kirchen den Rücken kehren und sich gleichzeitig nach mehr Sinn, ethischen Werten und Orientierung für ihr Leben sehnen?

Ich erlebe es, das dort, wo die biblische Botschaft Jesu in die konkrete Lebenssituation von Menschen so hinein gesagt wird, das sie diese Botschaft auch verstehen und  für sich selbst nachvollziehen können, das dort dann auch ein großes Interesse entsteht. Ich treffe bei den Bibeltagen Menschen, die hart arbeiten, die arbeitslos sind, die sich fragen, wie sie ihre Kinder vernünftig erziehen und ihre Beziehung gestalten können und die nach der Relevanz der Frohen Botschaft fragen. Und wenn diese Menschen, die eine Schippe tiefer graben wollen, dann durch Gespräche, Impulse und Lektüre erfahren, dass die Bibel auch für ihr ganz eigenes Leben eine reiche Quelle ist, dann haben die Bibeltage ihr Ziel erreicht.

Aber was machen dann die Kirchen falsch, die das gleiche Ziel für sich in Anspruch nehmen?

Auch Pfarrer wollen die Frohe Botschaft in unsere Zeit und in unseren Alltag übersetzen. Den einen gelingt es und den anderen eben nicht. Meine Erfahrung ist, dass auch Gottesdienste und Gemeindegruppen gut besucht sind, in denen es gelingt. Anders, als noch vor 50 Jahren, kommen die Menschen heute nicht mehr aus traditioneller Verbundenheit in die Kirche, weil auch ihre Eltern und Großeltern dazu gehörten. Das gilt nicht nur für die Kirchen. Das gilt auch für Vereine, Verbände und Parteien. Menschen fragen sich heute: Was hat das mit mir zu tun? Wo komme ich da vor. Und deshalb hat der Sportverein Zulauf, in dem Menschen erleben: Es mach Freude, hier gemeinsam Sport zu betreiben. Und das gilt im übertragen Sinn auch für Kirchengemeinden, in denen Menschen erleben: Die Frohe Botschaft Jesu ist eine Botschaft für mich und mein Leben, weil sie dort Menschen treffen, die ihren Glauben leben und so in unsere heutige Zeit übersetzen.

Kann man die über 2000 Jahre alte Botschaft des Jesus von Nazareth heute leben? Kann man damit auch Politik und einen Staat machen oder steckt nicht in ihrer moralischen Rigorosität nicht auch ein Stück Überforderung?

„Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagt Jesus. Da kann man sich fragen: Kann ich es mir überhaupt leisten, die Wahrheit zu sagen? Gehört nicht ein bisschen Flunkern und mehr Schein als Sein zum politischen und gesellschaftlichen Überleben?

Wenn ich als Politiker die Wahrheit sage, verliere ich womöglich die Wahl.

Zum Beispiel. Oder ich bekomme als Geschäftsmann vielleicht weniger Kunden. Ich selbst habe in meinem Beruf immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es enorm befreiend wirkt, wenn man sich in einem geschützten Raum hinter verschlossenen Türen, jenseits der Mainstream-Kommunikation die Wahrheit sagt, ohne dabei zu fragen: Wer ist schuld? Sondern, um zu fragen: Welche Probleme haben wir und wie können wir sie gemeinsam lösen? Wer die Evangelien liest, merkt schnell: Da stecken Grundwahreheiten drin, mit denen man auch heute sehr gut leben kann, wenn man sich denn darauf einlässt und die Bibel nicht nur als Stichwortgeber für nette Lebensweisheiten ansieht.

Wie haben Sie das Thema für die Bibeltage 2017 gefunden und wie wollen Sie es mit Leben füllen?

Wir haben uns im 500. Jahre der Reformation von Martin Luther inspirieren lassen. Wie wir lebte Luther in einer Zeit großer sozialer und politischer Verwerfungen. Bevor er die Kirche, die den Menschen Angst machte und sie ausnahm, reformieren wollte, fragte er sich nach seiner eigenen Mitte und danach, wo er Gott in seinem Leben mit all seinen Widersprüchen finden könne. Unsere Frage im Sinne Luthers lautet also: Wie finden wir heute in unserer Zeit Mitte und Orientierung und das so, dass auch unsere Zeitgenossen verstehen, was uns als Christen trägt? Dafür haben wir uns Seelsorger, Jugendarbeiter und Wissenschaftler eingeladen, um ihre Denkanstöße aufzunehmen, aber auch mit ihnen zu diskutieren, zu singen, zu beten und die Bibel zu lesen. Denn so, wie Luther zu seiner Zeit die Bibel ins Deutsche übersetzt hat, so müssen wir heute die Bibel in unsere Zeit hinein transportieren und uns auf die von Luther postulierte Freiheit eines Christenmenschen besinnen, um unseren Glauben in einer zunehmend multikulturellen und multireligiösen Welt profiliert leben zu können, ohne uns abschotten und auf anderen herabschauen zu müssen.

Internet-Informationen zu den Mülheimer Bibeltagen findet man unter www.bibeltage-mülheim.de oder per E-Mail an:  info@bibeltage-mülheim.de


Dieser Text erschien am 16. September 2017 im Neuen Ruhr Wort

Samstag, 16. September 2017

Jemand, wie Heiner Geißler fehl uns heute: Drei Fragen an die Saarner Buchhändlerin Ursula Hilberath

Ursula Hilberath an der Ruhrpromenade
Buchhändlerin Ursula Hilberath hat den Politiker und Buchautor Heiner Geißler 2001 als Gast beim Saarner Bücherfrühling kennengelernt. Wie erinnert sie sich an den streitbaren Christdemokraten, der als Sozialminister in Rheinland-Pfalz, als CDU-Generalsekretär, als Bundesfamilienminister, als Bundestagsabgeordneter und Attac-Mitglied bis zu seinem Tod am 12 . September ein Impulsgeber des öffentlichen politischen Diskurses gewesen ist.

Wie haben Sie Ihre Begegnung mit Heiner Geißler in Erinnerung?

Ich erinnere mich an einen heißen Nachmittag im Mai, an dem unsere Buchhandlung an der Düsseldorfer Straße überfüllt war und wir sogar im Schaufenster Stühle aufstellen musstem. So groß war das Interesse an Heiner Geißler, der damals bei uns sein Buch: „Wo ist Gott?“ vorgestellt hat. Ich habe Geißler damals als einen sehr freundlichen, zugewandten und bescheidenen Gesprächspartner erlebt, der mit den Gästen der Lesung angeregt und auf Augenhöhe diskutiert hat, um zu begründen, warum unsere Gesellschaft ein christliches Fundament brauche, um eine menschliche Gesellschaft zu sein und zu bleiben. Es gab damals sehr viel Applaus für Heiner Geißler.

Wie erinnern Sie sich an den Politiker Heiner Geißler?

Als feministisch bewegte Frau habe ich Mitte der 80er Jahre die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als der CDU-Generalsekretär Bundesfamilienminister wurde. Doch Geißler hat schnell meinen Respekt gewonnen, weil er sich in die Probleme und Sorgen von Familien und Frauen rasch hineingearbeitet und praktische Lösungen, wie das Erziehungsgeld, den Erziehungsurlaub und die Bundesstiftung Mutter und Kind initiiert, die Frauen beisteht, die ungewollt schwanger geworden sind.

Was ist für Sie Geißlers Vermächtnis?

Geißler war ein sehr gebildeter Mensch mit Tiefgang, der seinen christlichen Glauben als Maßstab für sein politisches Handeln ansah. Er hat, ohne Rücksicht auf kurzfristige Vorteile und Karriere den Standpunkt, den er als richtig und wichtig ansah, leidenschaftlich vertreten. In Erinnerung ist mir geblieben, dass er sich sehr kritische mit den Folgen des internationalen Turbo-Kapitalismus, aber auch mit der Verkündigungs-Praxis der christlichen Kirchen auseinandergesetzt hat. Nach seiner Ansicht komme in ihr der befreiende Charakter der Frohen Botschaft und ihre Aufforderung zum Umdenken zu kurz. Ich sehe heute bei uns leider keinen vergleichbaren Politiker.

Dieser Text erschien am 16. September 2017 in NRZ/WAZ

Mittwoch, 13. September 2017

Als August Thyssen 1871 in Styrum sein Walzwerk gründete

Beim Namen Thyssen denkt man an Stahl, Kohle und große Industriewerke. Man staunt, wenn man das erste Verwaltungsgebäude und Materiallager sieht, das August Thyssen in Styrum errichten ließ. Dabei handelte es sich um einen umgebauten Schuppen des ehemaligen Heckhoff-Hofes. Angesichts der Entwicklung, die der Thyssen-Konzern später nahm, wirken seine Anfänge äußerst bescheiden.

Seine Keimzelle war die Kommandit-Gesellschaft Thyssen und Co, die der damals 28-jährige August Thyssen zusammen mit seinem Vater Friedrich 1871 in Styrum gründete. Mit einem Startkapital von 70.000 Talern ging Thyssen ans Werk.

Eigentlich hatte er ein Grundstück auf dem Styrumer Marktplatz erwerben wollen, wo 1893 ein Rathaus für die zwischen 1878 und 1903 eigenständige Landbürgermeisterei Styrum errichtet werden sollte. Doch das Geschäft platzte und der Unternehmensgründer musste sich nach einer Alternative umschauen. Er fand sie bei Gustav Becker, der ihm zunächst 20.000 Quadratmeter des Heckhoff-Landes verkaufte. Hier ließ Thyssen nicht nur besagten Schuppen umbauen. Hier ließ er auch eine 100 Meter lange Werkshalle errichten, die einen eigenen Bahnanschluss hatte. Außerdem ließ sich Thyssen auf seinem Werksgelände fünf Puddelöfen, eine 160 PS starke Dampfmaschine, eine Bandeisenstraße und eine Luppen-Eisen-Straße installieren.

Sein Werksgelände lag zwischen dem Bahnhof Styrum und dem späteren Hauptbahnhof, den wir heute als Bahnhof West kennen. Das war für den Unternehmer eine logistisch hervorragende Lage. Denn sein Werk, dessen Mitarbeiter-Zahl bis 1877 auf 300 anstieg und damals 3000 Tonnen Eisen produzierte, befand sich damit im Kreuzungsbereich der Rheinischen und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn. Auch wenn Styrum mit dem Beginn des Eisenbahnverkehrs im März 1862 in einen Teil „vor“ und einen Teil „hinter“ der Bahnteilte, brachte die Industrialisierung Styrum einen enormen Aufschwung. Aus allen Provinzen des Deutschen Reiches und seinen Nachbarländern kamen Menschennach Styrum, um hier bei Thyssen Arbeit zu finden. So verzehnfachte sich die Bevölkerung Styrums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und lag um 1900 bei 31.000 Einwohnern.

Thyssen, der sein Unternehmen zunächst mit seinem Vater Friedrich und nach dessen Tod mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Josef führte, war nicht nur an reiner Gewinnmaximierung interessiert. Damit er die Arbeiter und ihre Familien an sich binden konnte, ließ er nicht nur Werkswohnungen errichten. 1878 initiierte er die Gründung eines Werkschores, den wir heute als Mannesmann-Chor kennen.
Auch der Bau der 1897 eingeweihten Styrumer Marienkirche und des 1912 eröffneten Mülheimer Stadtbades wurden von Thyssen mitfinanziert. Außerdem Gründete er mit Hugo Stinnes den Mülheimer Bergwerksverein und das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk. Beruflich legte Thyssen Wert auf Repräsentation. Davon zeugen seine spätere Firmenzentrale, das heutige Haus der Wirtschaft an der Wiesenstraße und sein späterer Wohnsitz Schloss Landsberg. Doch privat war Thyssen sehr sparsam und ersparte sich das Brückengeld, in dem er die von 1844 bis 1900 existierende Kettenbrücke nur zu Fuß und nicht mit seiner Kutsche überquerte.


Als August Thyssen 1926 starb, wurde der Wert seines Unternehmens auf 400 Millionen Reichsmark geschätzt. Der größte Teil der Thyssen-Werke ging nach dem Tod des Firmengründers in den Vereinigten Deutschen Stahlwerken auf.

Ein Beitrag für den 5. Band der Buchreihe "Styrum - ein starkes Stück Stadt" 

Dienstag, 12. September 2017

Am Brunnen in der Stadt


Als man in Mülheim noch Geld für Kunst im öffentlichen Raum übrig hatte, ließ man in den 70er Jahren den Mülheimer Bildhauer Ernst Rache auf der Schloßstraße eine begehbare Brunnenplastik schaffen. Der Säulenbrunnen, der seit mehr als 40 Jahren auf der Einkaufsstraße plätschert, wird grundiert und flankiert von einem Pflastersteinteppich, einer an unsere Erde erinnernde Kugel und unterschiedlich hohe Säulen, die, ebenso wie der Brunnenrand, gerne als Sitzgelegenheit genutzt werden.

Wenn man dort Menschen beobachtet, die sich auf und in Rasches begehbarer Plastik spontan für ein kurzes Gespräch oder eine gemeinsame Rast mit Brotzeit niederlassen. Wenn man Kindern bei ihren ersten Sprüngen und Balancierübungen zuschaut, dann erkennt man: Es braucht keine Burgen, Schlösser und Kirchen, die man an einem Tag des offenen Denkmals besucht, um einen historischen Denkanstoß für die Stadt von morgen zu bekommen, in der wir uns nicht nur als Kunde mit gut gefülltem Portemonnaie, sondern auch als Mensch aufhalten und verweilen wollen, weil wir uns noch etwas zu sagen haben, das nicht zu bezahlen ist.

Dieser Text erschien am 12. September 2017

Montag, 11. September 2017

"Und sonntags gehen wir die Enten füttern!" - Ein Zeitsprung im Witthausbusch

Ein Foto as dem Familienalbum der Familie Hammer.
„Noch heute gehe ich gerne zu diesem inzwischen verwilderten Teich in den Withausbusch, auch wenn es das Entenhaus am linken Bildrand heute nicht mehr gibt“, erzählt Hildegard Hammer. Sie hat uns das 1933 bei einem Sonntagspaziergang im Witthausbusch entstandene Foto zur Verfügung gestellt. Es zeigt den damals sechsjährigen Hans Hammer junior, der mit seinen Eltern Minna und Hans Hammer die Enten im und am Teich im Witthuasbusch füttert.

Vier Jahre zuvor, also 1929, war unweit des Teiches ein Gedenkstein für den Mülheimer Lehrer, Heimatforscher und Dichter Hermann Adam von Kamp errichtet. Der hatte 100 Jahre zuvor das später als Lied gesungene Gedicht „Alles neu macht der Mai“ geschrieben.„Mein späterer Mann, den ich 1955 geheiratet habe, wohnte mit seinen Eltern in einem Haus an der Stiftstraße. Als er größer wurde, fuhr er oft auch mit seinem Roller und ohne seine Eltern zu dem Teich, um dort die Enten zu fütterm“, erzählt Hildegard Hammer aus der Familiengeschichte. Wenn sie heute als Spaziergängerin an die 1933 fürs Familienalbum fotografierte Stelle im Witthausbusch kommt, werden bei ihr auch ganz persönliche Erinnerungen wach.

Denn auf einer Bank, oberhalb des Teiches, hat sie sich 1954 mit ihrem 2003 verstorbenen Hans verlobt. In den 60er Jahren gingen Hildegard und Hans Hammer mit ihrem 1957 geborenen Sohn Hans Wolfgang in den Witthausbusch, um an dem Teich unweit des Hans-Adam-von-Kamp-Denkmals die Enten zu füttern. Nicht zuletzt die gemeinsamen Spaziergänge im Withausbusch haben die im ostpreußischen  Allenstein geborene Hildegard Hammer in Mülheim heimisch werden lassen.

Dieser Text erschien am 11. September 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 10. September 2017

Vom Rhein an die Ruhr: Sabine Depew führt die Caritas im Bistum Essen

Mit einem Gottesdienst im Essener Dom und einem Festakt im Haus der Caritas ist Sabine Depew am Freitag in ihr neues Amt als Vorstandsvorsitzende und Direktorin der Caritas im Bistum Essen eingeführt worden. Bisher war die 52-Jährige für den Bereich Kinder, Jugend und Familie des Diözesan-Caritas-Verbandes im Erzbistum Köln verantwortlich.

In ihrer neuen Leitungsaufgabe trägt Depew Verantwortung für 30.000 haupt- und 5000 ehrenamtliche Mitarbeiter, die bistumsweit 750 soziale Dienste leisten. In seiner Predigt sagte der Vorsitzende des Diözesan-Caritas-Rates, Generalvikar Klaus Pfeffer: „Leben geht nur mit Caritas. Caritas bedeutet gelebte Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Caritas heißt, diakonisch dienend Verantwortung für seine Mitmenschen zu übernehmen und nicht die Flucht vor der Wirklichkeit anzutreten.“ In einem Brief, den Pfeffer nach dem Gottesdienst verlas, forderte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck die neue Caritas-Direktorin seines knapp 900.000 Katholiken zählenden Bistums auf: „aktiv und mutig dafür zu sorgen, dass der Geist der Caritas in unserer Kirche wieder stärker greift.“

Die neue Caritas-Direktorin sagte in ihrem Grußwort: „Die besonderen Nöte der Menschen im Ruhrgebiet sind für meine Arbeit und mich Anspruch und Ansporn. Das gilt auch für die Aufforderung des Bischofs, karitative und pastorale Arbeit stärker miteinander zu verbinden. In Zeit knapper Finanzen müssen wir als Caritas agiler und moderner agieren, um uns zügig sozialpolitisch einzubringen, nah bei den Menschen zu sein und ihre Bedarfe zu bedienen.

Depew bekennt sich dazu, die digitale Infrastruktur der Caritas-Arbeit, etwa mit einem facebook-ähnlichen Intranet, auszubauen und darüber hinaus mit flachen Hierarchien zu arbeiten. Außerdem möchte sie mehr junge Menschen für das Ehrenamt in der Caritas gewinnen und die sozialpolitische der Caritas unüberhörbar machen. Das ist aus ihrer Sicht besonders wichtig, weil „das Ruhrgebiet von vielen Menschen heute als verlorene Region angesehen wird und leider auch im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung eine untergeordnete Rolle spielt.“ An die neue Caritas-Direktorin gerichtet, machte Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen deutlich: „Das unsere Gesellschaft, unser Land und unsere Demokratie, trotz aller Belastungen und Herausforderungen immer noch im Kern stabil ist, das hat auch mit der Arbeit der Caritas zu tun.“

Dieser Text wurde am 8. September 2017 von der Katholischen Nachrichtenagentur verbreitet 

Samstag, 9. September 2017

Sabine Zett und ihr Hugo begeisterten junge Leseratten

Sabine Zett zu Gast im Medienhaus
"Diesmal haben 375 Mädchen und Jungen beim Lese-Club mitgemacht. Im vergangenen Sommer waren es nur 201", freut sich die Leiterin der Mülheimer Kinder- und Jugendbücherei Elke Hoffmann. An diesem Samstag kommen 120 erfolgreiche Leser im Grundschulalter ins Medienhaus, um sich ihre Urkunde abzuholen und die Kinder- und Jugend-Buchautorin Sabine Zett zu treffen.

Die Autorin, die früher als Journalistin Zeitungsartikel schrieb, ehe sie sich sehr erfolgreich auf das Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern verlegte, liest an diesem Samstagvormittag aus einem ihrer bisher sechs "Hugo"-Bücher vor. Die Kinder, die vor der Bühne im dritten Stock der Stadtbibliothek Platz genommen haben, sind gespannt. Und sie werden nicht enttäuscht.

Doch bevor es ans Vorlesen  geht, will Zett erstmal wissen: "Wer von euch hat in den Sommerferien fünf Bücher gelesen?" Einige Finger gehen hoch. Die Autorin ist begeistert: "Wirklich toll!", lobt sie die kleinen Leseratten. "Und wer hat mindestens drei Bücher in den Sommerferien gelesen?" Noch mehr Finger gehen hoch. "Prima", lobt Zett. In der nächsten Runde melden sich auch einige Kinder, die in den Sommerferien nur zwei Bücher gelesen haben. Doch als die Autorin wissen will, wer denn nur ein Buch während der Schulferien gelesen habe, geht nur ihr eigener Finger hoch. "Das kommt davon, wenn man als Buchautorin so viel Arbeit mit dem Schreiben hat", entschuldigt sich die am Niederrhein beheimatete Autorin.

Mit einer lustigen Geschichte für den Sohn fing alles an

Sie, so berichtet Zett, habe mit dem Schreiben von Kinderbüchern begonnen, als ihr Sohn 13 Jahre alt und sehr lese-faul gewesen sei. "Kinder wollen vor allem lustige Geschichten lesen, bei deren Lektüre sie auch mal über Erwachsene lachen können," beschreibt die Kinder-Buchautorin ihr Erfolgsrezept. Und so hat Zett bei ihrer kurzweiligen Vorlese-Stunde im Medienhaus am Synagogenplatz die Lacher der Kinder auf ihrer Seite, als sie den russischen Akzent von Hugos Ballettlehrerin "Katharina Irgendwas" nachmacht. Hugo, ein zwölfjähriger Schüler, der unbedingt Multi-Millionär werden will und mit seinem überbordenden und von keinem Wissen getrübten Selbstbewusstsein von einem Fettnäpfchen ins andere tritt, erlebt bei einer Hebefigur mit der kleinen Elena sein persönliches Fiasko. Es ist nicht das einzige und die Kinder kommen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Zwischenzeitlich stellt Sabine Zett immer wieder die eine oder andere Frage zum Inhalt ihres Buches, um deren Aufmerksamkeit zu testen.

Das junge Publikum war auf Zack

Die jungen Zuhörer geben sich keine Blöße. Auch die Mädchen und Jungen, die sich Zett als Lese-Assistenten auf die Bühne holt, um Hugos "Steckbrief" vor zu lesen, machen ihre Sache gut. Nicht nur für ihre Leistung gibt es einen kräftigen Applaus. Nach der Lesung befragt, sind sich Tristan, Nelly, Nils, Ella, Emilia und Leonhard einig. "Das war toll, wie sie die Stimme von Hugos Fußballtrainer und seiner Ballettlehrerin nachgemacht hat. Die Geschichte war wirklich lustig. Wir werden auf jeden Fall weitere Geschichten von Hugo lesen und uns die Bücher ausleihen." Sabine Zett wird es gerne gehört haben.

Dieser Text erschien am 9. September 2017 im Lokalkompass und in der Mülheimer Woche

Freitag, 8. September 2017

Eine streitbare Dame: Die Mülheimer CDU-Bundestagsabgeordnete Helga Wex kämpfte für eine partnerschaftliche Gesellschaft

Dr. Helga Wex
Das Deutschland heute von einer Bundeskanzlerin regiert wird, hätte Helga Wex gefreut, aber auch nicht überrascht. Denn, dass Frauen und Männer nur als gleichberechtigte Partner auf allen gesellschaftlichen Ebenen politisch vorankommen und einen Staat machen können, war ihr Credo.

Obwohl die Gleichberechtigung der Frauen seit 1949 im Grundgesetz steht, erlebten Wex und ihre Geschlechtsgenossen über Jahrzehnte  eine andere Wirklichkeit. Politik war Männersache, als die damals 29-jährige Helga Wex 1953 als Ministerialreferentin der NRW-Landesvertretung beim Bund in die Politik kam. Für die Frauen, die im Krieg die Arbeitsplätze besetzen mussten, die die Männer an der Front verwaist zurückgelassen hatten, sollten in den 50er Jahren wieder nach dem Motto „Kinder, Küche, Kirche“ leben.

Aber nicht mit Frau Wex. „Ich bin in die Politik gegangen, damit sich so etwas nie wieder wiederholen kann“, sagte sie einmal. So etwas, das war der Nationalsozialismus. Dessen Folgen hatte sie schon als Elfjährige erlebt. Das war 1933, als die Nationalsozialisten, ihren Vater, einen sozialdemokratischen Lehrer, in Handschellen durch die Straßen ihrer Geburtsstadt Buxtehude führten und ihn misshandelten.

Obwohl Tochter eines Sozialdemokraten, entschied sich die promovierte Literaturwissenschaftlerin für die CDU, weil ihr eine bürgerliche und christlich fundierte Politik als wegweisend erschien. Aus beruflichen Gründen folgte Wex ihrem Mann 1957 nach Mülheim und wurde hier vom CDU-Bundestagsabgeordneten und Kreisparteivorsitzenden Max Vehar für die Politik gewonnen. 1961 zog Wex erstmals in den Stadtrat ein und kandidierte 1965 vergeblich für den Bundestag.  Es war ausgerechnet der Tod des Alt-Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der sie im April 1967 über die Landesliste ihrer Partei in den Bundestag einziehen ließ. „Diese Frau wird sich nicht mit der Rolle einer Hinterbänklerin begnügen“, ahnte damals Werner Höfer in einem Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit.

Obwohl ihr bei der Bundestagswahl 1969 der Wiedereinzug ins Bonner Parlament versagt blieb, bleib Wex politisch als stellvertretende Partei-Vorsitzende der Bundes-CDU und als Gründungsvorsitzende der späteren Frauen-Union politisch altiv.

Nach ihrer Wiederwahl in den Bundestag rückte Helga Wex 1972 als Stellvertreterin von Rainer Barzel in die Fraktionsführung der Union auf. Als „streitbare und quirlige Dame“ und als „Farbtupfer im Einheitsgrau im männlich dominierten Parlamentsbetrieb“, sah das Nachrichtenmagazin Der Spiegel die Frontfrau der Christdemokraten.

Dass Frauen noch in den 60er und 70er Jahren, nicht ohne die Zustimmung ihrer Männer berufstätig werden oder ein Konto eröffnen konnten, brachte Wex ebenso politisch auf den Plan, wie ihre Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, nach einem Eltern- und Erziehungsgeld, einer Rentenanrechnung von Erziehungszeiten, sowie von flexiblen und familienfreundlichen Teil-Zeit-Arbeitsmodellen für Frauen und Männer.

Was uns heute als Allgemeingut erscheint, machte Wex damals, auch in ihrer eigenen Partei bei vielen unbeliebt. Obwohl sie in den 70er Jahren mehrfach als mögliche CDU-Kandidatin für ein Ministeramt gehandelt wurde, durfte sie nach dem Beginn der Kanzlerschaft des Christdemokraten Helmut Kohls 1982 nur als Koordinatorin der Deutsch-Französischen Beziehungen, nicht aber als Ministerin am Kabinettstisch Platz nehmen. Auch ihre Forderung nach einem „Familienkabinett“, das alle Politikbereiche auf ihre Familienfreundlichkeit hin abklopfen sollte, wurde vom CDU-Kanzler Kohl nicht aufgegriffen.

Immerhin konnte Helga Wex, noch kurz vor ihrem Krebs-Tod am 9. Januar 1986, einen großen politischen Erfolg verbuchen.

Ihrem Programmvorschlag folgend, hatte sich die CDU bei ihrem Essener Bundesparteitag 1985 „für eine neue Partnerschaft zwischen Männern und Frauen“ ausgesprochen. Sie selbst sagte damals in ihrer Parteitagsrede: „Wir sind Mitstreiter für eine freie Gesellschaft, in der die Stellung der Frau auf gleicher Verantwortung, gleichen Pflichten und gleichen Rechten beruht.“

Dieser Text erschien am 7. September 2017 in der NRZ und in der WAZ

Donnerstag, 7. September 2017

Ein Streiter für die Demokratie: Bergmann, Journalist und Politiker: Otto Striebeck war Mülheims erster Bundestagsabgeordneter.



Otto Striebeck
Foto: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
Vor der Bundestagswahl stellt die NRZ exemplarisch vier Mülheimer Bundestagsabgeordnete vor, die in ihrer Generation und in ihrer Partei Politik für Stadt und Bund gemacht haben. Der erste Mülheimer Bundestagsabgeordnete war der Sozialdemokrat Otto Striebeck. Seine wechselvolle Biografie liest sich wie ein Roman.

Als eines von 13 Kindern wird Otto Striebeck am 18. September 1894 im Kreis Hattingen geboren. Wie sein Vater, ergreift er nach der achtjährigen Volksschule den Beruf des Bergmanns. Den wird er bis Mitte der 20er Jahre ausüben, unterbrochen von seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Geprägt von seinen Kriegserlebnissen, tritt der kriegs-verwundete Heimkehrer 1917 in die SPD ein. Sein politisches Engagement hat Folgen. 1925 übernimmt er als Redakteur die Leitung der SPD-nahen Volksstimme in Moers. Dem sozialen Aufstieg folgt der soziale Absturz.

Denn als Sozialdemokrat und bekennender Gegner der NSDAP hat der Familienvater ab 1933 schlechte Karten.  Mal sitzt er wegen seiner Widerstandsaktivitäten im Zuchthaus. Mal ist er erwerbslos. Mal muss er sich und seine Familie als Hilfsarbeiter durchschlagen.
Doch 1945 bekommt Striebeck eine zweite Chance. In Mülheim wird er als Redakteur beim Rhein Echo und dann bei der ab Juli 1946 erscheinenden NRZ angestellt. Neben seinem Beruf ist Striebeck politisch aktiv. Seine Partei, die SPD, vertritt er zunächst im Bürgerausschuss und dann im neuen Stadtrat. Schnell erwirbt sich Striebeck einen Namen als politischer Pragmatiker mit ausgleichendem Temperament. Wo er kann, hilft er seinen Nachbarn. Als er 1968 mit dem Ehrenring der Stadt ausgezeichnet wird,  sagt Striebeck: „Es gibt nichts schöneres, als seinen Mitmenschen helfen zu können.“ Das tut er ab 1949  auch als Mitglied des deutschen Bundestages. Mit 34 Prozent der Erststimmen hat er bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 die Nase vorn. Zusammen mit seiner Fraktion streitet er in Bonn gegen die Wiederbewaffnung, für die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und für die betriebliche Mitbestimmung.

Doch nach dem Aufstieg in die Bundespolitik, folgt der Abstieg. Bei den Bundestagswahlen 1953 und 1957 verliert er sein Bundestagsmandat an die Christdemokraten Gisela Prätorius und Max Vehar. Doch aus der Not macht Striebeck eine Tugend. Er arbeitet wieder für die NRZ. Und als SPD-Stadtverordneter und Fraktionsvorsitzender kehrt er in die Kommunalpolitik zurück. Der Wiederaufbau der Schulen und die Belange seines Stadtteils Styrum sind die Themen Striebecks.
1958 bringt ihn das Schicksal zurück in den Bundestag. Er rückt für den verstorbenen SPD-Vize-Vorsitzenden Wilhelm Mellis über die Landesliste seiner Partei in den Bundestag ein. Dort kämpft er unter anderem für  mehr Luft- und Umweltschutz sowie für eine bessere medizinische Versorgung. Bei der Bundestagswahl 1961 hat Striebeck die Nase vorn. Seinen Gegenkandidaten Max Vehar, dem er  bei der Wahl 1957 mit einem Manko von 844 Stimmen unterlegen war, besiegt er jetzt mit 11 000 Stimmen Vorsprung. Doch bei der nächsten Bundestagswahl 1965 verzichtet der inzwischen 70-jährige Striebeck auf eine erneute Kandidatur und lässt seinem 39-jährigen Parteifreund Willi Müller den Vortritt. „Ich will nicht selbst den Fehler machen, den ich bei anderen älteren Politikern oft kritisiert habe und an meinem Mandat kleben. Denn die Politik braucht neben der Erfahrung der Älteren auch die Begeisterung der Jungen“, begründet Striebeck seine Entscheidung, als er 1965 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wird. Alt-Kanzler Konrad Adenauer (1876-1967) lässt grüßen.

Als Otto Striebeck am 2. Februar 1972 stirbt, würdigt ihn seine Zeitung,d ie NRZ, als „einen Streiter für die Demokratie“ und als „einen Mann, der sich nie scheute, für die Sache der Gerechtigkeit einzutreten.“

Dieser Text erschien am 7. September 2017 in NRZ und WAZ

Ihre Wiege stand in Mülheim

  Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die  Internets...